Ostdeutsche Landtagswahlen im Fokus: Wie groß ist die Bedrohung durch Rechtsextremismus?
Viktoria Kamuf im Gespräch mit Gideon Botsch, Marius Dilling und Cornelius Helmert
Nachdem im Mai und Juni auf der kommunalen Ebene gewählt wurde, finden im September in Brandenburg, Sachsen und Thüringen Landtagswahlen statt. Gideon Botsch von der Emil Julius Gumbel Forschungsstelle (EJGF) der Universität Potsdam, Marius Dilling vom Else-Frenckel-Brunswik-Institut (EFBI) der Universität Leipzig und Cornelius Helmert vom Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) Jena diskutieren im Gespräch mit Viktoria Kamuf vom Wi-REX die bisherigen Wahlergebnisse, ihre Folgen für die demokratische Kultur und wie demokratische Spielräume wieder vergrößert werden könnten.
Die Kommunalwahlergebnisse: Misstrauensvotum für die „etablierten Parteien“?
Viktoria Kamuf: Der Anlass unseres Gesprächs sind die Kommunal-, Landtags- und Europaparlamentswahlen, die dieses Jahr in den Bundesländern Sachsen, Thüringen und Brandenburg, in denen Ihr tätig seid, stattfinden bzw. bereits stattgefunden haben. Im Vorfeld und Nachgang der Kommunal- und EU-Wahlen im Mai und Juni gab es bereits viele Analysen und Einordnungen, auch von Euch und den Forschungsinstituten, an denen Ihr tätig seid.[1] Was waren für Euch mit Blick auf diese Wahlen und die Entwicklungen darum herum besonders überraschende Ergebnisse oder Ereignisse?
Gideon Botsch: Die Ergebnisse haben uns nicht sehr überrascht. Mit der Ausnahme, dass das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) erstaunlich gut abgeschnitten hat. Das BSW konnte neben der Wirkung, die Linke halbiert zu haben, im Land Brandenburg scheinbar auch sehr stark von der SPD Stimmen abziehen.
Das Bemerkenswerte neben den für uns nicht überraschenden Ergebnissen der AfD und der demokratischen Mitbewerberinnen ist für uns der hohe Zuspruch zu Wähler*innenbündnissen und Kleinstparteien. Ich meine nicht die Freien Wähler, sondern alle möglichen lokalen Kleinstbündnisse, die sehr viel gewählt wurden und die man oftmals schlecht einschätzen kann. Das hat eine doppelte Botschaft: Einerseits ist das ein Misstrauensvotum gegen die sogenannte Potsdamer, Berliner oder Brüsseler Politik bzw. die „etablierte Politik“. Es ist also Ausdruck einer Entfremdung vom politischen System, die auch die Ost-Studie des EFBI sehr gut belegen konnte. Andererseits ist das ein Wähler*innenpotenzial, das in Teilen in die AfD einmünden und folglich nach rechts mobilisierungsfähig sein könnte. Gleichzeitig ist es demokratisch aktivierbar. Das wäre zumindest eine Hypothese, die man sich in der nächsten Legislaturperiode sehr genau anschauen muss: Was sind das für Bündnisse? Warum schließen sich Leute gerade nicht der AfD an, bilden aber auf kommunaler Ebene solche Interessengruppen? Was wollen die für ihre Kommune?
Hier sehe ich ein Potenzial für demokratiefördernde Interventionen. Das ist eine Aufgabe für die politischen Parteien, die diese Menschen an der Basis der Demokratie verloren haben. Dabei ist das keineswegs ein neuer Trend. Wir haben bereits 2008 vom unpolitischen Bürgermeister als einem in Ostdeutschland sehr verbreiteten Phänomen gesprochen, also kommunalen Spitzenämtern, in die Personen gezielt gewählt werden, weil man sie nicht mit der Parteipolitik verbindet. In einem parlamentarischen und auf Parteien aufbauenden Repräsentativsystem bringt das große Probleme mit sich und vor allem die Schwierigkeit, kommunale Interessen auf eine höhere Ebene zu bringen und zu realisieren. Für die Parteien ist es ein eminenter Verlust an Rückbindung in die gesellschaftliche Wirklichkeit. Wenn Menschen sich außerhalb der Parteien engagieren und damit die Übersetzungsleistung von der Kommune in die übergeordneten parlamentarischen Ebenen verloren geht, ist das ein Problem, das uns über die AfD, das BSW und die Freien Wähler hinaus in den nächsten Jahren in Ostdeutschland beschäftigen wird.
Cornelius Helmert: Da kann ich mich anschließen. Im Hinblick auf die Kommunalwahlen in fünf Jahren wird interessant sein zu sehen, wie die Performance dieser Bündnisse ist. Hier in Thüringen gibt es teilweise Gemeinderäte, die komplett besetzt sind durch eine einzige Liste. Dort gab es nur Kandidat*innen aus dem Sportverein oder einer einzelnen Wählergemeinschaft und die wurden dementsprechend alle gewählt. Die Dynamiken, die dadurch ausgelöst werden, sind spannend zu beobachten.
Ansonsten hat mich überrascht, dass es der AfD nicht gelungen ist, einen weiteren Landrat oder eine Landrätin zu stellen. Schon vor den Wahlen war zu beobachten, dass die AfD teilweise Schwierigkeiten hatte, vorzeigbare Kandidat*innen aufzustellen. Außerdem hat der Landesverband hier in Thüringen eine schlechte Figur abgegeben, gerade im Landkreis Saalfeld-Rudolstadt, wo sich die AfD zerstritten hat und mit zwei verschiedenen Listen parallel zu den Kreistagswahlen angetreten ist. Da wurde vonseiten der AfD sehr viel Potenzial liegen gelassen.
Der dritte Aspekt ist die Eindeutigkeit der Landgewinne der AfD, also dass sie flächendeckend in jedem Landkreis[2] Stimmen dazugewinnen konnte. Nach unseren bisherigen Analysen war das unabhängig davon, wie die Situation vor Ort tatsächlich war und wie die AfD-Kandidat*innen vor Ort performt haben. In Sonneberg beispielsweise gibt es seit einem Jahr einen AfD-Landrat mit einer ziemlich katastrophalen Bilanz und dennoch konnte die AfD dort massive Zugewinne verzeichnen. Die flächendeckenden Erfolge der AfD scheinen auch unabhängig davon zu sein, ob die Zivilgesellschaft in Aktion trat. Diese Eindeutigkeit bei 22 Landkreisen und kreisfreien Städten hat mich überrascht.
Marius Dilling: Diese massive Leerstelle der demokratischen Parteien in der Fläche bei den Kommunalwahlen beobachten wir auch in Sachsen. Das ist auch ein Zeichen einer Entfremdung von der Parteiendemokratie. Teilweise treten die demokratischen Parteien im ländlichen Raum gar nicht mehr an. Auf kommunaler Ebene profitiert davon einerseits die AfD. Andererseits profitieren davon in Sachsen aber auch die diversen Wählervereinigungen, bei denen oft gar nicht klar ist, was und wer genau dahintersteckt. Manchmal sind es ehemalige NPD-Kader, die solche Listen aufstellen, was man von außen oft nicht gut erkennen kann. Hier sprechen wir auch von Tarnlisten.
Dann gibt es noch die Freien Sachsen. Sie sind Teil des Versuchs einer sogenannten „Mosaikrechten“[3], Straße und Parlament zu vereinen. Die Freien Sachsen hatten vor der Kommunalwahl angekündigt, dass sie flächendeckend in Sachsen antreten werden. Das haben sie auf Kreisebene auch getan. Aber bei den Gemeinde- und Stadträten sind sie in nur ca. 10 % der 418 sächsischen Gemeinden angetreten. Das heißt, diese „grüne Welle“, von der sie gesprochen hatten und die zu befürchten war, ist nicht eingetreten. Das hat uns überrascht. Dennoch haben sie sachsenweit ca. 100 Mandate erlangt und es gibt einzelne Hotspots wie zum Beispiel die Gemeinde Lößnitz im Erzgebirge, wo die Freien Sachsen 19 % der Stimmen geholt haben, was außergewöhnlich ist. Das stellt die lokalen Politiker*innen vor große Probleme bei der Lokalpolitik. Politischen Gegner*innen wurde schon angekündigt, dass man ihnen das Leben schwermachen will: Man wird ganz gezielt einzelne engagierte Gemeinderatsmitglieder und Bürgermeister*innen unter Beschuss nehmen.
Bröckelnde Brandmauern
VK: Anfeindungen auf kommunalpolitisch Engagierte und die veränderten Mehrheitsverhältnisse gerade auf lokaler Ebene sind zwei der vielfältigen Auswirkungen der Wahlergebnisse. In der öffentlichen Debatte wird zudem viel über das Aufrechterhalten oder Nicht-Aufrechterhalten einer „Brandmauer“ zur extremen Rechten gesprochen. Gleichzeitig gibt es Fragen, die über das Parlamentarische hinausgehen und die Demokratieförderung und Zivilgesellschaft betreffen. Was sind aus Eurer Sicht die zentralen Auswirkungen der bisherigen Wahlergebnisse?
MD: In Sachsen ist es ähnlich wie in anderen ostdeutschen Bundesländern so, dass eine Mehrheitsbildung gegen diese rechten Parteien immer schwerer wird. Wir sehen beispielsweise in Bautzen, dass es dort seit den Kommunalwahlen eine rechte Mehrheit im Stadtrat gibt. Dort wird nun von rechts versucht, ein Programm zu streichen, das unter anderem das Altstadtfestival und eine interkulturelle Woche fördert. Es ist häufig der Fall, dass Teile der öffentlichen Daseinsvorsorge subsidiär von Vereinen übernommen werden. Wenn zum Beispiel ein jugendkulturelles Zentrum der AfD oder anderen rechtsextremen Parteien nicht in den Kram passt, kann es zur Kürzung der Förderung kommen. Wir konnten hier in Sachsen auch schon Fälle beobachten, wo die „Brandmauer“ seitens konservativer Parteien wie der CDU bereits bröckelt und AfD-Anträgen zugestimmt wurde. Es gibt eine Studie der Rosa Luxemburg Stiftung, die sich diese Formen der Zusammenarbeit genauer angeschaut hat. Das wird auch in Zukunft ein Problem bleiben.
CH: Bei der „Brandmauer“ können wir darüber diskutieren, ob es die je gegeben hat oder nicht. In der Zukunft wird es sie vermutlich in immer weniger Landkreisen geben. Es waren bereits entsprechende Stimmen zu vernehmen, die ganz klar die kommunale Ebene von der Landes- oder Bundesebene trennen und sagen, dass auf kommunaler Ebene mit allen zusammengearbeitet werden müsse, die gewählt wurden.
Was meiner Befürchtung nach noch zunehmen wird, ist eine Verschlechterung der politischen Kultur. In Sonneberg konnte der Kreistag noch relativ gut gegen Robert Sesselmann agieren. Eine der ersten Aktionen, die der versucht hatte, waren die Kürzung bzw. Streichung der Finanzierung für die Partnerschaft für Demokratie (PfD). Da konnte der Kreistag intervenieren. Es wird sich jetzt zeigen, inwieweit das noch weiter funktionieren kann mit einer deutlich gestärkten AfD-Fraktion im Kreistag.
Aber vor allem auf der nicht-parlamentarischen Ebene sehen wir eine erhebliche Verschlechterung des politischen Klimas. Die Beratungsstelle für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen, ezra, hat Sonnenberg im letzten Jahr als einen neuen Hotspot rechter Gewalt im Bundesland ausgemacht. Zivilgesellschaftliche Initiativen vor Ort berichten von Angriffen und Bedrohungen nicht nur gegen sie selbst, sondern auch gegen Familienmitglieder. Die Initiative „Sonneberg gegen Rechts“ hat sich vor Kurzem zurückgezogen und das Bündnis aufgekündigt, um sich selbst zu schützen, da die Anfeindungen und Bedrohungslage so enorm sind. Das zeigt sehr deutlich, was im Landkreis auf der „kleinen“ kommunalpolitischen Ebene vor sich geht und gibt mir zu denken, wie das in den nächsten Jahren und in anderen Landkreisen weitergeht.
GB: Die Zerstörung der politischen Kultur in den Kommunen ist etwas, das wir schon seit Längerem in den Kommunalvertretungen beobachten, aber es macht sich immer deutlicher bemerkbar. Das führt auch zu deutlich männlicheren Kommunalvertretungen. Wir hören aus vielen Kommunalvertretungen, dass gerade weibliche Mitglieder, insbesondere jüngere Frauen, einem massiven Sexismus ausgesetzt sind. Insgesamt ist die Stimmung ziemlich miserabel, seit die AfD sich dort breit macht. Die Leute verlieren die Lust, sich für ihren Ort einzusetzen.
Ich finde die Debatte um die „Brandmauer“ ein bisschen gespenstisch vor dem Hintergrund, was uns aus den Kommunen regelmäßig gespiegelt wird. Eine Brandmauer hängt davon ab, dass sie durchsetzbar ist. Die demokratischen Parteien sind aber Minderheiten in manchen Kommunalvertretungen geworden. Wenn die demokratischen Parteien nicht mehr mindestens 50 % der Stimmen in der Gemeindevertretung hinter sich mobilisieren können, dann ist die Frage, welche strategischen Vorgaben sich überhaupt durchsetzen lassen, vor allem, wenn es gar nicht den geformten Willen dazu gibt bei den entsprechenden politischen Gegenkräften.
Zudem muss beachtet werden, dass die AfD in den Kommunen selten irgendetwas macht, das man als konstruktive Mitarbeit bezeichnen könnte. Nach allem, was wir erfahren, verhalten sich die AfD-Mitglieder in der Gemeindevertretung entweder womöglich taktisch klug, aber nicht besonders konstruktiv, oder sie zerstören die kommunale Selbstverwaltung durch ihr Handeln, oder sie bleiben einfach weg. Wenn sie handeln, wirken sie meist als Störfaktor. Die AfD ist nicht interessiert an einer guten Verwaltung in den Kommunen. Sie hat keine kommunalpolitische Strategie. Ich finde, das wird zu oft nicht zur Kenntnis genommen. Ich sehe in Brandenburg, aber auch in den Nachbarländern nicht, dass die AfD mit den kommunalpolitischen Mandaten politisch ernsthaft etwas anzufangen weiß. Im Grunde genommen sind die Kommunalpolitiker weitgehend sich selbst überlassen und handeln dementsprechend. Es gibt zwar immer wieder Versuche, kommunalpolitische Schulungen zu machen, die scheinen uns aber sehr schlecht und sehr zufällig zu sein. Es gibt keine Vorgaben durch die Partei, welche Strategien angewendet werden können. Auch die Versuche zur Gründung kommunalpolitischer Vereinigungen sind steckengeblieben. In Brandenburg gibt es jetzt eine Neugründung und man wird sehen, ob die erfolgreicher arbeitet. Das sind alles Dinge, die man mit einberechnen muss, wenn man über die Veränderungen in den Kommunen spricht. Das hat weitgehende Auswirkungen, die der AfD vielleicht nicht so sehr operativ nutzen, die aber auf jeden Fall schädlich für die demokratische Kultur sind – genau an dem Ort, auf der kommunalen Ebene, wo sich demokratische Kultur, Selbstwirksamkeit und Möglichkeiten zur Mitwirkung entfalten sollen.
Rechtsextreme Akteur*innen von den Parlamenten bis zur Straße
VK: Wenn ihr über die Wahlergebnisse sprecht, habt ihr verständlicherweise vor allem die AfD im Fokus. Ihr habt aber teilweise bereits weitere (extrem) rechte Akteur*innen genannt, die gerade auf der kommunalen Ebene agieren. Zudem gibt es rechte Personen und Gruppierungen, die über die parlamentarische Ebene hinaus oder parallel zu dieser aktiv sind. Wie agieren diese verschiedenen Akteur*innen miteinander oder gegeneinander?
GB: Das ist ein ganz wichtiger Aspekt. Wir sehen eine Entwicklung in der extremen Rechten, die sich seit über zehn Jahren entfaltet und eine neue Situation geschaffen hat in der Geschichte des Rechtsextremismus. Wir sehen eine bewegungsförmige Kraft, die nicht auf die Parteipolitik und die parlamentarische Politik beschränkt werden kann. Dabei betrachten wir vier Segmente dieser Bewegung. Das eine sind die Parteipolitik und die Parlamente. Die AfD ist hier der wichtigste Akteur, aber natürlich nicht der einzige. Es gibt auch weitere Parteien, die Freien Sachsen sind erwähnt worden, die NPD, die sich jetzt Die Heimat nennt, und die Neonazipartei Der III. Weg wären ebenfalls zu nennen. Die Mitbewerberinnen sind meistens nicht so erfolgreich wie die AfD und manchmal völlig erfolglos. Aber es gibt sie.
Ein zweites Segment sind die Medien. Man übersieht das oft, aber es sind neue Verlage und neue Zeitschriften entstanden, die offensichtlich Geld generieren und die es vor zehn, fünfzehn Jahren nicht gegeben hat. Das wahrscheinlich größte und bedeutendste war das Compact Magazin, das mediale Flaggschiff des Verlags Compact-Magazin GmbH, der seit Juli 2024 verboten ist. Daran kann man sehr deutlich sehen, wie AfD und Medienlandschaft zusammenwirken, ohne identisch zu sein. Es gibt AfDler*innen, die sich dort engagieren. Es gab aber auch immer wieder eine kritische Begleitung der AfD durch das Magazin. Zudem wurde Sahra Wagenknecht lange vor der Gründung des BSW dort sehr gepusht. Das heißt, man ist nicht auf Parteilinie, man ist nicht Zentralorgan der Partei und man ist auch nicht gesteuert von der AfD. Man steht aber in einem kommunikativen Wechselverhältnis. Selbst dort, wo man in Konkurrenz zueinander tritt, ist die Bewegungsrichtung dieselbe.
Das dritte Segment sind die organisierten Straßenproteste. Auch hier wurden in den letzten zehn Jahren neue Formate in neuen Bündnisstrukturen entwickelt, sehr professionell zum Teil. Über diese Straßenproteste wurde ein guter Teil der Unzufriedenen in Brandenburg an die AfD herangeführt. Etwa ein Drittel der Landtagsfraktion, die sich 2019 neu konstituierte, kam über diese Straßenproteste dazu. Unter anderem der jetzige Landesvorsitzende Christoph Berndt, der lange nicht als AfDler aufgetreten war, sondern mit der Protestkampagne Zukunft Heimat. Die Straßenproteste waren eng mit der AfD abgestimmt, hatten aber den Vorteil, dass sie nicht auf die Partei zurückgeführt werden konnten. Wenn etwas schiefging, war nicht die AfD dafür verantwortlich. Auch hier gibt es also ein Wechselspiel.
Etwas komplexer ist das Verhältnis zum vierten Segment. Das ist der gewalttätige Rechtsextremismus. Es wurde bereits erwähnt, dass es vermutlich ein Wechselverhältnis zwischen der Stärke der AfD und Gewalt gibt. Bisher haben wir dazu keine empirischen Daten, das ist auch schwer zu erheben. Aber ich denke, das ist eine sehr gut begründete Hypothese. Erfolge rechtsextremer Akteure inklusive der AfD haben eine unmittelbare Wirkung darauf, dass massive Ausgrenzung und Gewalt stattfinden. Trotzdem kann man in der Regel diese Gewalttätigkeit keinem der anderen drei Segmente eindeutig zuordnen.
CH: Für Thüringen kann ich das grundlegend so bestätigen mit einer Ergänzung, was die Straßenproteste betrifft. Da beobachten wir auf personeller bzw. persönlicher Ebene auch Konflikte und Streitigkeiten, die mitunter zum Nachteil der AfD wirken. Ein ziemlich prominentes Beispiel ist Christian Klar in Gera. Klar ist ein Neonazi, Organisator der rechten „Montagsspaziergänge“ und selbst AfD-Mitglied. Der hatte vor der Oberbürgermeisterwahl explizit davon abgeraten, den AfD-Kandidaten zu wählen, weil er stattdessen einen anderen „Spaziergänger“ präferierte, der als parteiloser Kandidat angetreten ist. In der Grundtendenz würde ich also zustimmen, aber im Detail müssen wir immer schauen, wie das Verhältnis der Akteur*innen vor Ort ist. Sehr häufig wird das durch persönliche Konflikte, die teilweise schon sehr lang zurückreichen, geprägt. Eine zweite Ergänzung: Gerade in Thüringen gibt es vonseiten der AfD starke Verbindungen zur Reichsbürgerszene durch viele persönliche Kontakte. Das ist beispielsweise im Januar 2024 bekannt geworden bei der Personalie Uwe Thrum, Landratskandidat im Saale-Orla-Kreis. Der hatte zur „Patriotischen Union“ direkte Verbindungen.
GB: In Brandenburg sind die Überschneidungen zwischen Straßenbewegung und AfD tatsächlich groß, wie unsere Analysen zeigen, während das in Thüringen und Sachsen nicht unbedingt so ist.
MD: Wir beobachten einen nach wie vor anhaltenden montaglichen Straßenprotest – mit Schwerpunkt in Ostsachsen – und sehen dort sehr unterschiedliche Milieus. Es gibt stärker verschwörungsideologisch geprägte Proteste, aber es gibt auch welche, die stärker durch die Freien Sachsen geprägt sind. Die Freien Sachsen wollen das sächsische Königshaus wieder „angemessen einbinden“ in die Zukunft eines „souveränen Sachsens“, womit sie eindeutig Reichsbürgernähe aufweisen. Um nochmal auf diesen Begriff der „Mosaikrechten“ zu sprechen zu kommen: In Sachsen beobachten wir, dass es starke Bestrebungen gibt, das zu forcieren. Die Freien Sachsen sind dabei Vorreiter: Sie sind zwar nur eine Kleinstpartei, aber eben auch Bewegungspartei und Sammelbecken verschiedener rechtsextremer Akteure. Sie rufen aktiv zu Doppelmitgliedschaften in anderen extrem rechten Gruppierungen auf, das ist für die überhaupt kein Problem. Das Verhältnis zur AfD ist dennoch kompliziert: man konkurriert teilweise und offiziell gibt es seitens der AfD einen Unvereinbarkeitsbeschluss, weswegen man sich nicht offen zur Zusammenarbeit bekennen kann. Klar ist jedoch, die AfD ist ein großer „Mosaik-Baustein“ und ideologisch ist man sich nahe.
Nationaler Tunnelblick als Herausforderung der Rechtsextremismusforschung
VK: Ihr habt nun vor allem auf die lokale und regionale Ebene bzw. auf ein bestimmtes Bundesland geblickt. Gleichzeitig sind das keine neuen Entwicklungen, die Ihr beschreibt. Wir sehen andere Länder in Europa, die schon viel länger von kommunaler bis hin zur nationalen Ebene Wahlerfolge für extrem rechte Akteur*innen verzeichnen. Wenn man sehr kritisch ist, könnte man der Rechtsextremismusforschung in Deutschland einen gewissen „nationalen Tunnelblick“ unterstellen, bei dem gerade bei den Fragen nach Ursachen und Entwicklungstendenzen selten über den landesweiten Tellerrand hinausgeschaut wird. Würdet Ihr dem zustimmen? Und wo seht Ihr in der Analyse rechter Wahlerfolge länderübergreifende Ansatzpunkte, die helfen können, Rechtsextremismus besser zu verstehen?
GB: Für viele europäische nationalistische, autokratische, rechtspopulistische oder rechtsextreme Akteure wirkt das Gefühl, abgehängt zu sein, als ein wichtiger Mobilisierungsfaktor. Wie das konkret thematisiert wird, ist dann eine Frage des jeweiligen nationalen Narrativs. Ich stimme Viktoria zu, dass es in der Rechtsextremismusforschung dahingehend Defizite gibt. Natürlich springt ins Auge, dass wir in Deutschland ein bestimmtes politisches System haben. Wir haben noch nicht oft systematisch gefragt, inwieweit dieses politische System rechte Akteure begünstigt hat oder nicht. Wenn wir das beispielsweise mit der Schweiz vergleichen oder mit Frankreichs Präsidialsystem: Stärkt das deutsche politische System diese Möglichkeiten oder schwächt es sie? Ein interessanter Befund kommt von Michael Minkenberg, einem der wenigen Komparatisten, die Ost- und Westeuropa vergleichen. Er beschreibt für Europa zwei abweichende Trends. In Westeuropa ist es typischerweise so, dass die rechtsextremen Parteien dort stark sind, wo die Bewegungen schwach sind und umgekehrt. Ob das heute noch so gilt, insbesondere für den französischen Fall, müsste man sich nochmal genauer anschauen. Das abweichende Muster Osteuropas ist, dass die Parteien und Bewegungen sehr viel enger miteinander kooperieren und sich gegenseitig stärken.[4] Diese Teilung Europas spiegelt und perpetuiert sich in Deutschland. Lange haben die ostdeutschen Landesverbände der AfD von der engen Verbindung zur nicht-parteiförmigen Bewegung gelebt; in Brandenburg hat man das zum Modell erklärt. In Westdeutschland hingegen galt: Wo die Bewegung reinfunkt, kann es für die Partei schwierig werden. Man kann das aber natürlich nicht so pauschalisierend sagen. Zudem ist die Frage, ob sich das weiterführen und vertiefen wird oder nicht.
Was heißt das für die Rechtsextremismusforschung? Wir haben wenig Komparatistik, wir haben wenig Internationalität, wir haben wenig institutionalisierte Strukturen der Forschung. Wir konnten in der Zwischenzeit eine wissenschaftliche Zeitschrift gründen, die ZRex, das ist ein Fortschritt. Wir haben erste, in der Regel aber sehr schwach ausgestattete landesgeförderte Institute. Das zeigt den Stellenwert der Rechtsextremismusforschung und die erheblichen Defizite auf dem Gebiet. Gerade auch in meiner Disziplin, der Politikwissenschaft, wurde lange Zeit wenig zu dem Thema gearbeitet. Während überall in Europa rechtspopulistische Akteure auftraten, während die NPD schon in Parlamenten saß, war die Politikwissenschaft in Deutschland an anderen Dingen interessiert. Wir haben hier dringenden Handlungsbedarf. Es braucht eine Institutionalisierung der Rechtsextremismusforschung.
CH: Ich denke auch, dass viel zu wenig vergleichend gearbeitet wird, und sehe gleichzeitig den Bedarf, das zu tun. Es werden häufig sehr kurz gegriffene und wenig analytische Vergleiche beispielsweise mit Ungarn, Österreich oder Polen angestellt, gerade auf Tagungen und beim Versuch, in Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit hineinzuwirken. Auch im Journalismus werden Vergleiche oft sehr schnell und sehr direkt gezogen. Da werden oftmals wesentliche Defizite und Hemmnisse in der Vergleichbarkeit ausgelassen. Das sehe ich als Auftrag an uns, durch eine wissenschaftliche Fundierung der Vergleiche eine Wissensgrundlage zu schaffen und diese in die Diskussion hineinzugeben. Ich weiß allerdings leider nicht, wie das bei uns am Institut ad hoc passieren könnte, da wir natürlich immer diversen, vor allem förderstrukturellen Zwängen ausgeliefert sind. Dennoch sollten wir nicht davor zurückschrecken, das langfristig anzugehen und zu überlegen, wie und mit wem wir zusammenarbeiten könnten, um diesen blinden Fleck zu erhellen.
MD: Wir arbeiten bei uns am Institut sowohl quantitativ als auch qualitativ und da gibt es natürlich auch das Problem, dass die Mittel fehlen, um solche internationalen Vergleiche anzustellen. Unser Forschungsauftrag besteht allem voran aber für Sachsen und die Erwartung ist dementsprechend nicht, dass wir internationale Vergleiche anstellen. Der Vergleich ist wissenschaftlich trotzdem notwendig, aber gerade für vergleichende quantitative Erhebungen fehlen einfach die Mittel.
Ausblick: Die (landesgeförderte) Rechtsextremismusforschung nach den Landtagswahlen
VK: Die Stichworte Institutionalisierung der Rechtsextremismusforschung, Stellenausstattung und Fördermittel deuten darauf hin, dass es einen stärkeren Ausbau und eine weitergehende Förderung der Rechtsextremismusforschung braucht – und das auch systematisch. Gleichzeitig stellt sich gerade bei den ländergeförderten Instituten mit Blick auf die Landtagswahlen die Frage, wie sicher die bisherige Förderung eigentlich ist. Was hat die aktuelle politische Situation für Auswirkungen auf die Institute, an denen Ihr arbeitet?
MD: Das EFBI ist aktuell noch bis Mitte 2025 finanziert, aber leider nicht Teil der Strukturförderung des Landes Sachsen. Deswegen steht natürlich im Raum, je nachdem wie im Herbst gewählt wird, dass es das EFBI in der nächsten Legislaturperiode nicht mehr geben wird, da sich das Parlament und die Landesregierung womöglich dazu entscheiden, uns nicht weiter zu fördern. Wie es in diesem Fall weitergeht, ist offen. Für die Arbeit des EFBIs hat diese Unsicherheit schon jetzt Konsequenzen.
CH: Da gibt es eine gewisse Ähnlichkeit mit dem IDZ. Wir bekommen auch eine Förderung vom Land Thüringen, die u. a. von den Haushaltsverhandlungen und damit auch vom Ausgang der Landtagswahlen abhängig ist. Für 2025 könnte es im Rahmen der Koalitionsverhandlungen vielleicht noch Kompromisse geben. Aber dann folgen noch mehrere Jahre und Haushalte bis zu den nächsten Landtagswahlen. Es ist sehr belastend für die Kolleg*innen, dass das jedes Jahr wieder neu verhandelt werden muss. Da wir aus verschiedenen Fördertöpfen finanziert sind, gäbe es noch Finanzierungen unabhängig von der Landesförderung, die den Wegfall aber nicht kompensieren könnten.
GB: Wir sind nicht projektgefördert, deswegen betrifft uns das nicht in der gleichen Form. Worauf wir uns aber einstellen müssen, ist, dass das Klima auch für Wissenschaftler*innen, die in dem Feld arbeiten, deutlich rauer wird. Die Anfeindungen werden zunehmen und die Spielräume für Forschung kleiner werden. Wir werden sicherlich Probleme bei der Zugänglichkeit zum Beispiel zu historischem Archivmaterial befürchten müssen. Erste Gerichte haben schon Gutachten anerkannter Wissenschaftler*innen abgelehnt, die sie wegen kritischer Äußerungen zur AfD für befangen erklärten. Das ist eine riskante Entwicklung, auch für die Justiz selbst, wenn sie unabhängige Expert*innen nicht mehr als amici curiae behandelt. Denn wer wird noch gutachten, wenn er oder sie befürchten muss, dann öffentlich als Forscher*in diskreditiert zu werden? Die Einschränkungen in der Ausübung und Freiheit der Forschung und Lehre sind ein Teil des gesellschaftlichen Rucks hin zu mehr Ressentiment und des abnehmenden Wunsches nach kritisch reflektierender Expertise. Das werden keine leichten Jahre für uns.
Rechtsextremen Bestrebungen entgegenwirken und demokratische Spielräume erweitern: Wünsche und Forderungen
VK: Was wünscht Ihr Euch bzw. was fordert Ihr von anderen Akteur*innen, von politischen Entscheidungsträger*innen bis hin zu anderen akademischen oder gesellschaftlichen Institutionen, um diesen Einschränkungen entgegenzuwirken, die Ihr gerade beschrieben habt?
GB: Raus aus der Projektförderung, stabile, sichere Strukturen fördern, diese Strukturen in den Wissenschaftsetats verankern und nicht abschieben auf eine Feuerlöschfunktion. Wir brauchen Grundlagenforschung. Ich war sehr enttäuscht, dass in den beiden einschlägigen Ausschreibungen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) – also den Förderlinien zu Rechtsextremismus und zu Antisemitismus – trotz der Ankündigung und der Aufforderung, Grundlagenforschung zu ermöglichen, sehr wenige Projekte gefördert wurden, die wirklich Grundlagenforschung machen. Es wird dann erwartet, dass man unmittelbar in der Praxis verwertbare Ergebnisse liefert, die kurzfristig den Brand löschen sollen. Aber so schaffen wir es nicht, unsere Strukturen und unsere Demokratie langfristig brandsicher zu machen. Der Zugriff der Feuerwehr ist immer der letzte. Man muss im Vorfeld verhindern, dass sich Brände entwickeln und ausbreiten. Das haben wir schon viel zu lange versäumt. Die Wissenschaft kann ein Teil davon sein, aber nur, wenn sie forschen kann und die Mittel und Ressourcen hat, um Daten und Quellen zur Verfügung zu stellen und auch langfristig zu sichern. Baden-Württemberg hat das vorgemacht, die haben wirklich Geld in die Hand genommen, um das Institut für Rechtsextremismusforschung (IRex) aufzubauen. Das müssen sich die anderen Bundesländer jetzt zum Vorbild nehmen. Kürzen an der Stelle wäre vollkommen verfehlt.
MD: Da kann ich nur zustimmen. Was ich mir außerdem von politischen Akteuren wünsche: Die demokratischen Parteien hier in Sachsen, aber nicht nur in Sachsen, müssen den Fokus auf den ländlichen Raum setzen, auf die Daseinsfürsorge, Dienstleistungen des täglichen Bedarfs und den Infrastrukturausbau, damit strukturelle Ungleichheiten beseitigt werden. Es gibt in Ostdeutschland Gefühle der Ungleichheit, „Bürger*innen zweiter Klasse“ zu sein. Das hat teilweise eine reale Grundlage in beispielsweise den krassen Vermögensunterschieden zwischen Ost und West. Solche strukturellen Disparitäten zwischen Ost und West können zu einem Gefühl des Abgehängtseins beitragen. Wir haben kürzlich auf Basis der letzten Leipziger Autoritarismus Studie untersucht, wie das bei autoritären Einstellungen ist und konnten beobachten, dass Ost/West-Unterschiede sozusagen „wegerklärt” werden, wenn Kontextfaktoren wie die Wirtschafts-, Sozial- und Infrastruktur der Landkreise berücksichtigt werden. Waren sich ost- und westdeutsche Kreise strukturell ähnlicher, dann verliert auch der Unterschied Ost/West an Relevanz für individuelle autoritäre Einstellungen. Für mich ist entscheidend, dass es ein Zusammenspiel aus objektiven Faktoren gibt, die in Ostdeutschland ausgeprägter sind als in Westdeutschland, und einer subjektiven Wahrnehmung derselben, z.B. in Form kollektiver Abstiegsängste. Im Grundgesetz gibt es den Begriff der gleichwertigen Lebensverhältnisse und das kann mittel- und langfristig eine Stellschraube sein, mit der man diesen Entwicklungen entgegenwirken kann.
Die demokratischen Kräfte sollten sich außerdem im Agenda-Setting nicht von extremen Rechten treiben lassen. Ich glaube, niemand wird die SPD wählen, weil sie jetzt einen härteren Kurs in der Migrations- und Asylpolitik fährt. Stattdessen muss ein Umgang mit antidemokratischen Kräften wie der AfD im kommunalpolitischen Raum gefunden werden. Es gibt ein Beispiel aus Sachsen. Dort haben die demokratischen Parteien zusammen mit dem Kulturbüro Sachsen eine kommunalpolitische Strategie entwickelt, nachdem die NPD das zweite Mal ins Parlament 2009 gezogen ist. Anstatt, dass jede Fraktion separat auf einen Antrag der NPD reagiert, hat man festgelegt, dass beispielsweise im Januar die CDU auf einen Antrag reagiert, im Februar die Grünen, im März die SPD usw. Dieses „Durchwechseln bei der Gegenrede“ wurde auch in anderen größeren Kommunalparlamenten umgesetzt: z.B. im Dresdner Stadtrat und in einigen Kreistagen. Die Idee war, dass man so den parlamentarischen Betrieb aufrechterhält und nicht so viel Zeit durch die Beschäftigung mit der NPD verliert. Die AfD ist natürlich sehr viel stärker, sodass die Ausgangslage eine andere ist. Dennoch ist dieses Vorgehen ein Beispiel für Strategien, über die sich demokratische Kräfte in Kommunalparlamenten austauschen sollten: sei es in Hinblick auf die AfD, die Freien Sachsen oder andere rechtsextreme Kräfte.
GB: Mich wundert in diesem Kontext, dass die Parteien gegen wissenschaftliche Politikberatung so resistent sind. Fast alle Fachkolleg*innen aus der Politikwissenschaft haben der CDU vorhergesagt, dass dieser Rechtsaußenkurs, die AfD rechts überholen und überflügeln zu wollen, der Union nichts bringen und im Zweifel sogar massiv schaden wird. Die CDU ist jetzt bei 30 % bei den Europawahlen hängengeblieben. Das ist kein gutes Ergebnis für die Oppositionsführerin angesichts der unbeliebtesten Bundesregierung aller Zeiten. Stattdessen haben wir eine sehr gestärkte AfD. Und auch bei der SPD wundert man sich, dass sie das Problem so lange überhaupt nicht als Problem und schon gar nicht als ihr Problem gesehen zu haben scheint. Es gab zwar immer Fachpolitiker*innen, die über Rechtsextremismus geredet haben, aber dass sich hier etwas aufbaut, das an die Quellen der Wählerzustimmung gehen könnte, das hat man wenig adressiert. Da gibt es sicherlich noch viel Spielraum für eine wissenschaftliche Politikberatung, aber sehr wenig erkennbares Interesse, soweit ich das sehen kann.
VK: Es ginge also auch darum, die Rolle der Wissenschaft nicht nur als eine zu begreifen, die Informationen und Erkenntnisse bereitstellt, sondern als eine, die in den Diskurs eingreift oder ganz konkret beratend für die Politik tätig wird?
GB: Wir können den Akteuren nur sagen, was wir darüber wissen, was möglicherweise passiert. So können wir mit einiger Sicherheit sagen, dass die Strategie von Mitte-Rechts- und Mitte-Parteien, rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien überflügeln zu wollen, fast immer schiefgegangen ist und oft zum Verschwinden dieser Mitte-Parteien geführt hat – gerade, wenn man an einige unserer europäischen Nachbarländer denkt. Das ist das, was Politikberatung in der Tradition von Max Weber machen kann. Ich sehe es nicht als unseren Auftrag, den Parteien ihre Strategien zu entwickeln. Die Frage ist natürlich, ob eine Beratung gewünscht ist. Gerade auf der Ebene der politischen Parteien habe ich den Eindruck, dass das eher stört und man lieber versucht, einfach weiterzumachen. Aber das löst offensichtlich nicht unser Problem. Wir sehen seit längerer Zeit, dass sich ein Teil der Gesellschaft in Ostdeutschland, aber auch in Westdeutschland, aus bestimmten Strukturen herausgeschraubt und immer stärker zu einem Milieu verdichtet hat. Wenn wir heute sehen, dass selbst bei den Kommunalwahlen unabhängig davon, wer kandidiert, die AfD mit großer Sicherheit in einem Land wie Brandenburg 20-25 % der Stimmen bekommt, dann ist das ein deutlicher Hinweis darauf, dass sich dieses Milieu gefestigt hat und selbstbewusst auftritt. Da ist es völlig egal, ob die AfD von China oder Russland ferngesteuert ist, oder ob Neonazis in den Reihen dieser Partei sind. Man wählt die AfD aufgrund eines kulturellen Codes, den sie vertritt.
MD: In unseren Auswertungen der Europawahlen sehen wir für Sachsen, dass einer der stärksten Prädikatoren für den Zweitstimmenanteil der AfD eine langfristig verankerte rechtsextreme lokale politische Kultur ist. Dort, wo während der Landtagswahl 2009 bereits NPD gewählt wurde, wählt man heute ebenfalls stärker die AfD. Diese Milieus, von denen Gideon gesprochen hat, die haben hier eine Tradition, die man nachverfolgen kann und daraus speist sich die AfD heute noch.
GB: Das stimmt exakt mit unseren Analysen der brandenburgischen Wahlen überein.
CH: Das kenne ich auch in der Form für Thüringen. Eine Forderung, die ich nicht nur an die Politik, sondern auch an die gesellschaftliche Öffentlichkeit insgesamt hätte, wäre es, diesen Befund zu akzeptieren. Es gibt ein stabiles Milieu, das die AfD wählt und das schätze ich für Thüringen noch höher ein als für Brandenburg. Kurzschlüsse im Sinne des Bedienens von asylfeindlichen Stereotypen, wie beispielsweise im Rahmen der Landratswahlen im Saale-Orla-Kreis geschehen, werden da nicht verfangen können. Wir haben es mit Stammwähler*innen zu tun, zu denen noch ein je nach Bundesland unterschiedlich hohes Niveau an flexiblen Wähler*innen hinzukommt, die manchmal zu Hause bleiben, manchmal die AfD wählen, aber manchmal auch die Freien Sachsen. Diese Realität anzuerkennen wäre der erste Schritt, um sich auch langfristig damit auseinandersetzen zu können. Es ist schwierig, für die nächsten Wochen bis zu den Landtagswahlen Handlungsempfehlungen zu formulieren. Doch wir müssen bereits auf die nächsten Landtagswahlen bzw. die Bundestagswahl nächstes Jahr schauen. Dahingehend müssen wir akzeptieren, dass extrem rechte Parteien in den ostdeutschen Bundesländern eine sehr starke Verankerung haben, die relativ unabhängig davon ist, was die anderen Parteien oder andere gesellschaftliche Akteur*innen machen. Diese Akzeptanz ist der Grundstein dafür, sich wirklich damit auseinanderzusetzen, was es langfristig braucht, um den demokratischen Zusammenhalt wieder zu stärken.
VK: Vielen Dank für das Gespräch!
Fußnoten
[1] Für die EJGF siehe z.B. die Mitteilungen „Wer wählt rechtsaussen?“ und „‘Das Amt verschenkt‘? Die Kommunalpolitik der AfD als Herausforderung für die Demokratie“; für das EFBI z.B. die Kurzanalyse „Die Freien Sachsen zur Kommunalwahl 2024“, das Policy Paper „Autoritäre Dynamiken und die Unzufriedenheit mit der Demokratie“ zu einer Bevölkerungsbefragung in den ostdeutschen Bundesländern 2023 sowie eine Analyse der Europawahlergebnisse für Sachsen; für das IDZ Jena finden sich alle Analysen im Rahmen des Wahljahrs 2024 gesammelt auf der Institutswebsite.
[2] Außer bei der Kreistagswahl im Landkreis Saalfeld-Rudolstadt, wo sie mit zwei konkurrierenden Listen angetreten ist.
[3] Angelehnt an Hans-Jürgen Urbans Begriff der „Mosaik-Linken“ prägte Benedikt Kaiser aus dem Umfeld des rechtsextremen „Instituts für Staatspolitik“ diesen Begriff aus einer strategischen Überlegung heraus: Verbindendes Element von Straße bzw. Vorfeld und Partei – über mögliche Heterogenität hinweg – soll ein völkischer Nationalismus sein.
[4] Siehe hierzu auch: Minkenberg, M. & Sündermann, T. (2021), Das Verhältnis von AfD und rechtsradikalen Bewegungen in Brandenburg. Der Fall Zukunft Heimat in Cottbus. In: G. Botsch & C. Schulze (Hrsg.), Rechtsparteien in Brandenburg. Zwischen Wahlalternative und Neonazismus, 1990-2020 (S. 245-269). be.bra.
Schlagwörter
- AfD, Extrem rechte/rechtspopulistische Parteien, Forschungsansätze & Methoden, Ostdeutschland, Rechte Strukturen & Organisationen
Veröffentlichungsdatum
Gideon Botsch
Gideon Botsch ist apl. Professor für Politikwissenschaft an der Universität Potsdam und Leiter der Emil Julius Gumbel Forschungsstelle Antisemitismus und Rechtsextremismus des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien, Potsdam.
Marius Dilling
Marius Dilling ist Sozialwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Else-Frenkel-Brunswik-Institut (EFBI) und am Kompetenzzentrum für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung (KreDo) der Universität Leipzig. Er ist beteiligt an den Leipziger Autoritarismus-Studien. Seine Arbeits- und Interessensschwerpunkte liegen im Bereich der quantitativen Einstellungsforschung mit Fokus auf die Bereiche Autoritarismus und Verschwörungsmentalität sowie Rechtsextremismus.
Cornelius Helmert
Cornelius Helmert ist Politikwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) Jena. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Rechtsextremismus-und Demokratieforschung, politische Bildung und die Forschung zu politischen Einstellungen von Jugendlichen.
Viktoria Kamuf
Viktoria Kamuf ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena. Sie studierte Politische Soziologie und Politische Theorie in Maastricht, Quito und London. Zu ihren Forschungsinteressen und Arbeitsschwerpunkten gehören Strukturen und Ideologie der extremen Rechten, die gesellschaftkritische Analyse rechter und rassistischer Gewalt, Sozialraumforschung und Wissenschaft-Praxis-Transfer. Im Wi-REX leitet sie das Team am IDZ Jena, das gemeinsam mit dem SO.CON für die Gestaltung der Plattform Transfer zuständig ist.
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