Rechtsextremismus im Stadt-Land-Gefüge: Performanzen und soziale Räume
von Kerstin Thieler & Daniel Gerster
Im Forschungsprojekt Hamburg rechtsaußen. Rechtsextreme Gewalt- und Aktionsformen in, mit und gegen städtische Gesellschaft 1945 bis Anfang der 2000er Jahre (HAMREA) stehen die Aktivitäten der extremen Rechten in Hamburg nach 1945 im Zentrum. Von besonderem Interesse sind die gesellschaftliche Gegenwehr und die Reaktionen der Betroffenen rechter Gewalt, ebenso wie die Frage, wie sich staatliche Akteure und Behörden gegenüber der extremen Rechten positionierten und wie sie auf diese reagierten. In der Zusammenschau sollen diese Perspektiven eine Gesellschaftsgeschichte der extremen Rechten in Hamburg ergeben, die neben dem Wandel ihrer Aktionsformen auch personelle, performative und semantische Kontinuitäten aufzeigen soll.
Unsere Forschung zeigt: Dem noch heute gern von offizieller Seite propagierten Selbstbild Hamburgs als besonders liberaler Großstadt sind einige braune Schattierungen hinzuzufügen. Die Einordnung der Hamburger Spezifika der extremen Rechten bedarf allerdings einer Kontextualisierung mit bundesrepublikanischen und auch transnationalen Entwicklungen. Dies soll in einer Monographie geschehen, die momentan im Entstehen begriffen ist.
Mit unseren Kooperationspartnern, der Stiftung Hamburger Gedenk- und Lernorte und der Landeszentrale für politische Bildung in Hamburg, wurde bereits eine Ausstellung realisiert, die an verschiedenen prominenten Orten der Stadt zu sehen war.
Ein weiteres Element von HAMREA ist die Website Rechte Gewalt in Hamburg. Sie bildet mit 300 berücksichtigten Ereignissen ca. 20 Prozent der Einträge unserer Datenbank ab, in der wir neben rechten Gewalttaten und Aktionen auch Formen der Gegenwehr erfasst haben. Die Karte der Website visualisiert somit geographische Schwerpunkte rechter Gewalt. Auf der Karte sind lokale Konzentrationen von rechtem Aktionshandeln zu sehen, so zum Beispiel in Blankenese, ganz im Westen Hamburgs gelegen, oder in Bergedorf-Lohbrügge im Osten. Beide Stadtteile waren zentral für die Geschichte der extremen Rechten in Hamburg, auch wenn sie von ihrer Sozialstruktur bis heute nicht unterschiedlicher sein könnten.
Lokale Konzentrationen rechtsextremen Aktions- und Gewalthandelns erklären sich primär aus der persönlichen Verortung der beteiligten Akteurinnen und Akteure.
Sowohl in Blankenese als auch in Bergedorf lassen sich prominente Akteurinnen und Akteure der extremen Rechten lokalisieren. Für Blankenese ist dies Jürgen Rieger (1946-2009), der zunächst vor allem in Hamburg, dann aber bundesweit als rechtsextremer Multifunktionär agierte. Allerdings war Blankenese auch in den Nachkriegsjahrzehnten kein Neuland für die extreme Rechte. Riegers Wohnort und seine spätere Anwaltskanzlei in einer Blankeneser Villa wurden zum Treffpunkt, zunächst vor allem für Hamburger Neonazis. Ab den 1980er Jahren trafen sich vermehrt rechte Skinheads im Garten der Villa und agierten auch im Stadtteil mit spontanen Aufmärschen und Überfällen. Diese Präsenz der extremen Rechten scheint in hohem Maße an die Person Jürgen Riegers und seine Angebote gekoppelt gewesen zu sein. Dessen Blankeneser Wohnort war familiär bedingt, allerdings bot der Stadtteil auch weitere Ermöglichungsräume: Er war nicht durch linke Gruppierungen besetzt, man konnte sich ungestört treffen oder aufgrund der Randlage in der Nähe sogar Wehrsportübungen abhalten.
Rieger fuhr allerdings auch des Öfteren in das eine Stunde entfernte Amtsgericht Bergedorf, um dort seine Mandanten zu vertreten. Zu ihnen zählten u.a. Christian Worch und Thomas Wulff. Auch in Bergedorf hielten rechte Parteien und Gruppierungen schon bald nach Gründung der BRD regelmäßig gut besuchte Versammlungen ab. Seit den späten 1970er Jahren traten dann Akteurinnen und Akteure der ANS – der Aktionsfront nationaler Sozialisten – verstärkt gewaltsam gegenüber Personen auf, die sie als „links“ oder „migrantisch“ identifizierten. Jugendclubs und Feste wurden überfallen, der Stadtteil mit Aufklebern markiert. Mit der Lohbrügger Army entstand eine Gruppe aus Skinheads und Neonazis, die auch außerhalb von Bergedorf agierte. Auch die Skinheads, die Ende 1985 Ramazan Avcı in der Nähe der S-Bahnstation Landwehr zu Tode hetzten, stammten von hier. Mit Worch und Wulff sind zwei zentrale Protagonisten der Hamburger Neonazi-Szene eng mit Bergedorf verbunden. Gleichzeitig gab es dort Widerstand gegen rechts – nicht nur durch die Antifa.
Die extreme Rechte versammelte sich zwar tendenziell am Rande der Stadt – wenn sie aber im Zentrum hierzu Gelegenheit erhielt, auch dort: Dies war etwa beim rechtsgesinnten Gastwirt der Schwulenkneipe Cancan (vormals: Endstation) auf St. Georg der Fall, die beispielsweise für den ANS und Michael Kühnen ein Anlaufpunkt war. Am Rande der Stadt ließ sich zumeist ungestörter agieren als in den Hochburgen linker Gruppierungen im Zentrum der Stadt. Dennoch waren die Akteurinnen und Akteure der linken Gegenwehr in zentral gelegenen Stadtteilen häufig Ziele rechter Attacken. Auch wenn die Protagonistinnen und Protagonisten der extremen Rechten zumeist nicht aus großbürgerlichen Stadtteilen wie Blankenese stammten, so nutzten sie bisweilen die Möglichkeiten, die ihnen ein wohlhabender Akteur wie Jürgen Rieger bot – sei es in Blankenese oder im Schulungszentrum Hetendorf 100 km südlich von Hamburg.
Der urbane Raum diente der extremen Rechten primär als Aktions- und Agitationsraum, während die Peripherie eher als Rückzugs- und Ausweichraum diente.
Der Gegensatz zwischen Stadt und Land bzw. urbaner Peripherie ist nicht so trennscharf wie es scheint: Auch Blankenese ist gewissermaßen ein Rückzugsraum in den Stadtgrenzen, und in Bergedorf findet rechte Gewalt statt, auch wenn es in der urbanen Peripherie liegt. Es ist allerdings offenbar, dass man innerhalb der extremen Rechten Hamburgs Rückzugs- und Ausweichorte als nötig ansah und sie sich auch schuf. Dieses Phänomen kann auch als Reaktion auf eine vergleichsweise starke linke Szene gelesen werden, die vor allem im Zentrum der Stadt aktiv war. Gleichzeitig inszenierten sich die Mitglieder der extremen Rechten in Hamburg gerne als Protagonisten eines widerständigen Kampfes gegen die Auswüchse der modernen Großstadt. Demnach müsse man sich im liberalen Hamburg in besonderem Maße behaupten.
Eine Antwort hierauf war das Schulungszentrum Hetendorf. In dem maßgeblich von Jürgen Rieger betriebenen Zentrum fanden von 1979 bis 1998 politische Schulungen, völkische Sonnenwendfeiern, Lager und Wehrsportübungen in der Hamburger Peripherie statt. Das südlich von Hamburg und in Nähe zur KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen gelegene Hetendorf bot nicht nur der Hamburger rechten Szene einen Raum, in dem sie weitgehend ungestört agieren konnte. Die Etablierung eines sogenannten „Schutztrupps“, zu dem auch Neonazis aus Bergedorfer gehörten, zeigte zudem, dass sich dieser Raum von der häufig auf Provokation angelegten Agitation in der Großstadt grundsätzlich unterschied und auf Abschottung abzielte. Rieger plante, im Dorf noch weitere Grundstücke zu erwerben, scheiterte aber am Widerstand sowohl aus der lokalen Bevölkerung als auch von Antifa-Gruppen aus Hamburg und anderen Städten. Schließlich gelang es 1998, die Einrichtung zu verbieten. Auch wenn die geplante Usurpierung des Dorfes Hetendorf letztlich scheiterte, so wichtig war dieser Rückzugsort dennoch für die Einübung der Aneignungsdynamiken in der Stadt.
Die extreme Rechte in Hamburg eignete sich soziale Räume seit den 1970er Jahren zunehmend durch medial-inszenierte und gewalthafte Praktiken an.
Räume sind mehr als bloße Behälter im physikalischen Sinn. Sie werden, so die grundlegende Prämisse des spatial turn, durch soziale Interaktionen von Menschen miteinander und in Wechselwirkung mit den lokalen und materiellen Gegebenheiten hergestellt. Räume sind also nicht von Dauer, sie werden produziert, angeeignet, verteidigt. Das gilt auch für Räume der extremen Rechten nach 1945.
So nutzten in Hamburg Vertreterinnen und Vertreter der extremen Rechten seit den 1970er Jahren zunehmend mediale Inszenierungen, um Orte kurzzeitig einzunehmen und ihre Themen im öffentlichen Raum zu platzieren. Sie griffen dazu häufig auf Zeichen und Symboliken aus der NS-Zeit zurück, die sie kreativ interpretierten und frei arrangierten. Das war an sich nicht neu, lässt sich eine entsprechende Inszenierung doch z.B. schon bei den Auftritten der SRP in den 1950er Jahren beobachten. Neu in den 1970er Jahren war der bewusst in Kauf genommene Tabubruch und das Spiel mit den Logiken der modernen Mediengesellschaft. Das bekannteste Beispiel ist sicherlich die sogenannte „Eselmaskenaktion“, bei der Michael Kühnen und Mitglieder der Aktionsfront Nationaler Sozialisten vor dem Hamburger Hauptbahnhof im Mai 1978 auftraten. Einige von ihnen hatten dabei Eselmasken auf dem Kopf und Schilder um den Hals, auf denen stand „Ich Esel glaube noch, daß in deutschen KZs Juden ‚vergast‘ wurden“. Weniger bekannt ist, dass es bereits im November 1974 am Rande eines NPD-Treffens im Haus des Sports eine ähnliche Inszenierung gab, über die die Hamburger Morgenpost am nächsten Tag ausführlich berichtete.
Zweitens lässt sich für Hamburg, nicht anders als für den Rest der Bundesrepublik, seit den 1970er Jahren beobachten, dass die extreme Rechte zunehmend Gewalt anwendet, um sich Raum anzueignen. Hamburg kam diesbezüglich eine herausragende Rolle zu. Stichworte sind die Überfälle der Kühnen Schulte Wegener-Gruppe, der Brandanschlag der Deutschen Aktionsgruppe in der damalige Halskestraße, bei dem zwei vietnamesische Boat People starben, sowie die Ermordung von Ramazan Avcı 1985. Bald besaß die bloße Androhung von Gewalt eine ordnungsgestaltende Dimension. So am 20. April 1989, als Skinheads anlässlich des 100. Geburtstags eine zweite „Kristallnacht“ für die Hamburger Stadtteile Veddel und Wilhelmsburg ankündigten und daraufhin ca. 3000 Schüler an dem Tag zuhause blieben und Migrantinnen und Migranten ihre Geschäfte schlossen.
Rechtsextremen Versuchen, Räume zu besetzen, stellten sich in Hamburg von Anfang an gesellschaftliche Gruppen aus dem linken und später auch aus dem migrantischen Milieu entgegen.
Versuchte die extreme Rechte, sich Raum anzueignen, dann geschah das immer in Auseinandersetzung mit anderen Akteurinnen und Akteuren: Betroffenen wie Migrantinnen oder Migranten, aber auch mit politischen Gegnerinnen und Gegnern, Journalistinnen und Journalisten, sowie staatlichen Behörden oder Polizei. Uta Döring hat diesen wechselseitigen Prozess eindrücklich für sogenannte „Angstzonen“ beschrieben, wie sie auch am 20. April 1989 in Hamburg entstand. Sie konnte letztlich nur entstehen, weil die Angesprochenen aufgrund ihrer bisherigen (Gewalt-)Erfahrung die Situation als gefährlich einschätzten. Einen Beitrag leisteten ferner Gerüchte, die nicht zuletzt von den lokalen Medien im Vorlauf verbreitet wurden.
Akteurinnen und Akteure können freilich unterschiedlich auf die Versuche der extremen Rechten, sich Raum anzueignen, reagieren. Im Fall von Hamburg – wie in anderen Städten – lässt sich z.B. belegen, dass sich migrantische Jugendgruppen mit dem Ziel gründeten, sich gegen die rechtsextreme Gewalt zu wehren. In diesem Sinne bedrohten die Wilhelmsburger und Veddeler Türken Boys, die Champs und andere rechte Skinheads mit Spuckis (Aufkleber). Die Jugendgangs lassen sich in eine übergeordnete Entwicklung einordnen, die von einem neuen Selbstverständnis der migrantischen Gruppen in der Bundesrepublik in den 1980er Jahren zeugte und sich in gesteigerter Selbstorganisation ausdrückte. Zugleich steht die oft gewaltsame Gegenwehr der Jugendgruppen meist recht unverbunden neben dem Widerstand linker Antifa-Gruppen. Dieser konnte auf eine lange Tradition nach 1945 zurückblicken, intensivierte sich seit den 1970er Jahren jedoch.
Auch die staatlichen Stellen in Hamburg registrierten die Umtriebe der extremen Rechten in der Regel. Das Reaktionsrepertoire von Polizei und Staatsschutz reichte von der intensiven Beobachtung bis zum Verbot von Veranstaltungen und Organisationen. Letzteres wurde aber nur in äußersten Notfällen durchgeführt. Seit den 1960er Jahren galt in Hamburg wie in der gesamten Bundesrepublik die rechtsextreme Gefahr zudem als vernachlässigbar gering und wurde als Jugendproblem abgetan. So veröffentlichte Bürgermeister Klaus von Dohnanyi 1986 nach mehreren Gewalttaten einen Brief in deutscher und türkischer Sprache, in dem er Skinheads und migrantische Jugendliche gleichermaßen zu Gewaltverzicht aufrief.
Fazit
An dieser Stelle können Fragen zu den spezifischen Raumvorstellungen, -typen und -aneignungspraktiken der extremen Rechten nur angerissen werden. Weiterführend wäre zu untersuchen, welche stadtspezifischen Besonderheiten Hamburg im Vergleich zu anderen Großstädten, aber auch zu den angrenzenden ländlich geprägten Regionen auszeichnen – und inwiefern sich daraus besondere Dynamiken im Umgang mit rechter Raumpolitik ergeben. Wie genau beeinflussten etwa die größere soziale Dichte und Anonymität der Großstadt das Handeln der extremen Rechten sowie das ihrer Gegnerinnen und Gegner? Und welche Rolle spielten die vergleichsweise hohe Mobilität und das (zumindest im analogen Zeitalter) dichtere Kommunikationsnetz? Antworten auf diese Fragen bleiben künftigen Untersuchungen und Veröffentlichungen vorbehalten.
Schlagwörter
- Rechte Strukturen & Organisationen, Rechtsterrorismus/Rechte Gewalt
Veröffentlichungsdatum

Kerstin Thieler
Kerstin Thieler studierte Mittlere und Neuere Geschichte und Europäische Ethnologie an der Georg-August-Universität Göttingen und an der Königlichen Universität Kopenhagen. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, zuvor war sie an der Universität zu Köln tätig. Sie veröffentliche u.a. ›Volksgemeinschaft‹ unter Vorbehalt. Gesinnungskontrolle und politische Mobilisierung in der Herrschaftspraxis der NSDAP-Kreisleitung Göttingen, Göttingen 2014.

Daniel Gerster
Daniel Gerster studierte Geschichte, katholische Religionslehre und Erziehungswissenschaften in Mainz, Berlin und Warschau. Er wurde am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz promoviert. Seit 2020 ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. seit April 2025 vertritt er die Professur für Neuere Geschichte / Zeitgeschichte an der Universität Hamburg. Er veröffentlichte u.a. Schulen der Männlichkeit. Internatserziehung und bürgerliche Gesellschaft in Großbritannien und Deutschland, 1870-1930, Göttingen 2024.
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