Der Halle-Prozess: Hintergründe und Perspektiven
von Christina Brinkmann und Jakob Schreiter
Der Strafprozess gegen den Täter des antisemitischen, rassistischen und frauenfeindlichen Anschlags in Halle und Landsberg-Wiedersdorf war bisher ein zentraler Moment gesellschaftlicher Auseinandersetzung mit der Tat, ihren Folgen und ihren Ursachen. Dies vor allem, weil Betroffene und Überlebende eine zentrale Rolle im Prozessgeschehen einnahmen, sich dort Raum nahmen und erkämpften, über die Folgen der mörderischen Tat für ihr eigenes Leben sprachen, aber auch politische Konsequenzen und eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung und Veränderungen einforderten. Der Prozess war von Beginn an mit erhöhter Aufmerksamkeit verfolgt worden, dennoch basierten die Möglichkeiten, sich von außerhalb detailliert und kontinuierlich über den Prozessverlauf zu informieren vor allem auf aktivistischer und ehrenamtlicher Prozessbeobachtung und -dokumentation. Neben weiteren Akteuren wie NSU Watch, dem VBRG (Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt) und dem Podcast „Halle nach dem Anschlag“ war es auch der Verein democ, der eine Dokumentation zu jedem einzelnen der insgesamt 26 Prozesstage online veröffentlichte, die bis heute einsehbar und nutzbar sind.
Aus den Mitschriften der bei democ Aktiven entstand in Zusammenarbeit mit Studierenden des Kommunikationsdesigns an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein Halle das 896 Seiten umfassende Buch „Der Halleprozess: Mitschriften“. Das Konzept sah vor, in einem Folgeband einzelne Aspekte des Verfahrens herauszugreifen und inhaltlich zu vertiefen. Der entstandene Sammelband „Der Halleprozess: Hintergründe und Perspektiven“ beansprucht keine Vollständigkeit, sondern betont die Vielstimmigkeit und wirft einzelne Schlaglichter. Für dieses Buch wechselte das Herausgeber_innnen-Team zu Nils Krüger, Jakob Schreiter und Christina Brinkmann, die sich aktivistisch, gestalterisch und journalistisch mit dem Prozess auseinandergesetzt hatten.
Interview über bedrohte Männlichkeit mit Rolf Pohl
Foto: Maja Redlin
„Der Halle-Prozess. Hintergründe und Perspektiven“ versammelt Essays, Interviews und wissenschaftliche Texte von Überlebenden, Betroffenen, Verfahrensbeteiligten und Sozialwissenschaftler_innen. Das Buch beginnt mit Erfahrungen migrantischer und postmigrantischer Hallenser_innen am Tag des Anschlags. In ihrem Beitrag beschreibt Reem A. eindrücklich, wie die Ausländerbehörde Halle am Tattag nicht zu einem Schutzraum für zahlreiche dort Wartende wurde, sondern diese im Gegensatz zu vielen anderen Orten und Einrichtungen vor die Tür setzte.
Mehrere Beiträge folgen, die sich mit Aspekten des Gerichtsprozesses auseinandersetzen: Ilil Friedman beschreibt, wie Überlebende und ihre Anwält*innen dafür kämpften, dass die rassistischen Mordversuche des Täters an ihrem Mandanten Aftax Ibrahim und an İsmet Tekin als solche vom Gericht anerkannt wurden. In einem Interview, das ebenfalls im Band abgedruckt ist, reiht Aftax Ibrahim die letztlich im Urteil ausgebliebene Anerkennung ein in den alltäglichen Rassismus in Deutschland.
Weitere Texte nehmen unter anderem das Fehlverhalten der Polizei, die Rolle von Onlinecommunities für rechten Terror, die Verknüpfungen von Antisemitismus, Antifeminismus und misogyner Gewalt in den Blick. Die Diversität der Texte ist von Hannah Englisch und Maja Redlin auch gestalterisch umgesetzt: die Schriftgrößen und -arten und der Umgang mit dem sogenannten „Leerraum“ variieren. Neben schriftlichen Beiträgen findet sich mittig im Band eine künstlerische Arbeit von Arne Schmitt. Seine Fotoserie ergibt eine unvollständige Bibliografie: die fotografierten Ausschnitte zeigen Romane, Gedichtbände, Bücher zur jüdischen Geschichte Sachsen-Anhalts, zu rechtem Terror in Deutschland, zu Antisemitismus. Die Anwältin Kristin Pietrzyk betont in ihrem Beitrag, dass die Institution der Nebenklage eine feministische Errungenschaft ist und macht deutlich, wie sich Nebenkläger_innen im Halleprozess Raum erkämpften.
Sabrina Slipchenko schreibt in ihrem Essay als Überlebende des Anschlags über Fragen des Sprechens in diesem erkämpften Raum und Konsequenzen des Schweigens. Der zweisprachig abgedruckte Text von Rabbinerin und Nebenklägerin Rebecca Blady endet mit dem Plädoyer für ein erweitertes Verständnis von Zeug_innenschaft: “The Torah teaches, ‘If one heard the call, and he is a witness – whether he has seen or known – if he does not speak, he is subject to punishment.’ Perhaps we need to take stock of what we truly see and what we truly know, from the past but also from the present, so that we can compel action, so that we can compel justice.”
Schlagwörter
- Antifeminismus, Antisemitismus, Rassismus, Rechtsterrorismus/Rechte Gewalt
Veröffentlichungsdatum
Christina Brinkmann
Christina Brinkmann ist Kunstwissenschaftlerin und hat gemeinsam mit Valentin Hacken am Podcast »Halle nach dem Anschlag« für Radio Corax gearbeitet.
Jakob Schreiter
Jakob Schreiter arbeitet als Künstler und hat den Prozess gegen den Täter des Anschlags aktivistisch begleitet.
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