Vier Jahre nach Hanau - Perspektiven zum Rechtsterrorismus in Deutschland
von Yassir Jakani
Am 19. Februar 2024 jährt sich der rechtsterroristische Anschlag in Hanau zum vierten Mal. Die Namen der Menschen, die aus rassistischen Motiven ermordet wurden, dürfen nicht vergessen werden: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Dieser Beitrag reflektiert das Postulat einer adäquaten Erinnerungskultur zwischen gesellschaftlichen Aushandlung-, Artikulations- und Anerkennungsprozessen sowie einer notwendigen Selbstorganisation der Opfer und Betroffenen. Er verhandelt historische Kontinuitäten und Brüche rechtsextremer Gewalt in Deutschland und diskutiert die Relevanz und Herausforderungen einer opferzentrierten Erinnerungskultur.
Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov: Die Namen der Menschen, die am 19. Februar 2020 in Hanau aus rassistischen Motiven ermordet wurden, dürfen nicht vergessen werden.[1] Dieses zentrale Postulat, das sich infolge des Anschlags in Hanau diskursiv etablieren konnte, zeigt die Relevanz einer opferzentrierten Erinnerungskultur in Deutschland explizit auf.
Der Anschlag in Hanau löste erneut eine umfassende Debatte über den gewaltbereiten Rechtsextremismus in Deutschland aus. So fordert nicht zuletzt das staatliche Grundprinzip einer wehrhaften Demokratie eine kritische Auseinandersetzung mit den heterogenen Gefahren, die vom rechtsextremen Milieu in Deutschland ausgehen. Nancy Faeser kündigte demnach im Rahmen ihrer Antrittsrede als Bundesministerin des Innern und für Heimat am 12. Januar 2022 eine nachhaltige Verbesserung der Extremismusbekämpfung und -prävention in Deutschland an. Demgemäß müsse insbesondere dem Rechtsextremismus als größte Gefahr für die deutsche Demokratie zeit- und sachgemäß entgegengewirkt werden. Die rechtsterroristischen Anschläge in Istha bei Kassel 2019, Halle 2019 und Hanau 2020 belegten das vielfältige Gefährdungspotenzial, das vom gegenwärtigen Rechtsextremismus in Deutschland ausgehe (Faeser, 2022).
Das politische Narrativ einer neuartigen rechtsextremen Gewaltbereitschaft bzw. Bedrohung für die diverse Gesellschaft muss aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive jedoch kritisch hinterfragt werden. So lässt sich anhand vielfältiger historischer Gewalttaten seit 1945 durchaus eine Kontinuität rechtsextremer Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland konstatieren. Hiernach erscheint auch eine umfassende Historisierung des Rechtsterrorismus geboten – vor allem aus einer dezidierten Opfer- und Betroffenenperspektive. Eine öffentliche Betonung, dass der Anschlag in Hanau sich wenige Monate nach dem rechtsterroristischen Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke ereignete, ist für eine gegenwartsbezogene Analyse rechtsextremer Gefährdungspotenziale zweifellos essenziell. Auch der rechtsterroristische Anschlag in Halle, bei dem der Täter aus antisemitischen und rassistischen Motiven eine Synagoge attackierte, die zufällig ausgewählten Opfer Jana L. und Kevin S. tötete sowie das Ehepaar Jens und Dagmar Z. lebensgefährlich verletzte, erschütterte die deutsche Gegenwartsgesellschaft lediglich wenige Monate zuvor. Eine darüber hinausgehende Historisierung und öffentliche Markierung rechtsextremer Gewaltkontinuitäten – nicht zuletzt durch politische Akteur*innen – würde überdies zu einer fundierten Sichtbarmachung der historischen Gewalterfahrungen sowie der (trans-)generationalen Traumata infolge rechtsextremer Gewalt beitragen.
Auf die vielfältigen Gewaltmuster des heterogenen Rechtsextremismus im wiedervereinigten Deutschland kann an dieser Stelle lediglich exemplarisch verwiesen werden: Eberswalde 1990, Hoyerswerda 1991, Saarlouis 1991, Mölln 1992, Rostock-Lichtenhagen 1992, Solingen 1993, der NSU 2000–2007, Köln 2015, München 2016, Istha bei Kassel 2019, Halle 2019 sowie Hanau 2020. Auch im geteilten Deutschland können in einer Nachschau rechtsterroristische Gewalttaten identifiziert werden (hierzu weiterführend u.a. Manthe, 2023). Eine gesamtgesellschaftliche Erinnerung an sämtliche Todesopfer rechtsextremer Gewalt in Deutschland konnte sich allerdings bislang nicht etablieren – die Amadeu Antonio Stiftung (2023) verweist auf mindestens 219 Todesopfer seit dem Wendejahr 1990 sowie 16 weitere Verdachtsfälle. Vielmehr offenbart sich in diesem Zusammenhang regelmäßig eine kollektive Gedächtnislücke. Laut Amadeu Antonio Stiftung (2023) sind unmittelbar vor bzw. seit dem Anschlag in Hanau zudem sechs weitere rechtsextreme Morde in Deutschland zu registrieren. Matthias Quent (2022) verweist exemplarisch auf den Mord an Mario K., der aus rechtsextremen und homophoben Motiven am 12. Februar 2020 im thüringischen Altenburg getötet wurde. Eine detaillierte Fallanalyse verdeutlicht, dass die spezifischen Tatfaktoren, wie zum Beispiel die Tatbeteiligung, die Tatausführung, die Tatfolgen sowie die Gewichtung einzelner ideologischer Beweggründe, mitunter variieren. Gleichzeitig bleibt (historisch) eine stringente Benennung der Gewalttaten im Rahmen der diskursiven Aushandlungsprozesse oftmals aus: unpolitische Gewalt, rechtsradikale Gewalt, rechtsextremer Vigilantismus oder Rechtsterrorismus? Die definitorische Unschärfe der einschlägigen Begrifflichkeiten belastet die fachwissenschaftlichen und öffentlichen Debatten zusätzlich. Insbesondere eine kohärente und übergreifende Analyse der rechtsextremen Gewaltkontinuitäten wird aufgrund einer fortwährenden Fragmentierung der relevanten Diskurse erschwert.
Trauma, aber wessen?
Im Kontext einer umfassenden Wahrnehmung rechtsextremer Gewalt in Deutschland könnte die konstante diskursive Einordnung der Taten als terroristisch ihre gesamtgesellschaftliche Perzeption nachhaltig beeinflussen. In Anlehnung an die von Georg Franck (1998) konzeptualisierte »Ökonomie der Aufmerksamkeit«, die im Wesentlichen einen andauernden Wettbewerb verschiedener Akteur*innen um knappe Aufmerksamkeitsressourcen im öffentlichen Diskurs beschreibt, kann der Terrorismus-Begriff, der ein extremes Ausmaß menschenverachtender Gewalt unmittelbar impliziert, die gesamtgesellschaftliche Aufmerksamkeit für die einschlägigen Gewalttaten effektiv fördern. Die öffentliche Artikulation rechtsextremer Gewalt als terroristisch verdeutlicht bereits auf sprachlicher Ebene eine fundamentale Demokratie- und Menschenfeindlichkeit sowie die traumatischen Auswirkungen der Tat. Hierdurch wird einer potenziellen Verharmlosung der Gewalt im öffentlichen Diskurs und einer sozialen Unsichtbarkeit der Opfer und Betroffenen wirksam vorgebeugt. Darüber hinaus wird auch ein gesamtgesellschaftliches Bewusstsein für die (trans-)generationalen Traumata nachhaltig verstärkt. Ein entsprechendes mediales Framing (hierzu weiterführend u.a. Potthoff, 2012) würde außerdem dazu beitragen, die rechtsextreme Gewalt in Deutschland historisch zu kontextualisieren. Gleichwohl würde eine umfassende Artikulation des Terrorismus-Begriffs zu kontroversen Debatten führen – insbesondere hinsichtlich einer phänomenübergreifenden Terrorismusdefinition und einer konsensfähigen Begriffsanwendung auf rechtsextreme Akteur*innen.
Die physischen und/oder psychischen Verletzungen infolge der heterogenen rechtsextremen Gewalttaten können – unabhängig von einer juristischen, politischen, fachwissenschaftlichen oder medialen Kategorisierung – von den unmittelbaren Opfern als gleichwertig traumatisierend empfunden werden. Weiterhin haben die einschlägigen Gewalttaten regelmäßig das grundlegende Potenzial, auch eine indirekte Zielgruppe nachhaltig zu schockieren (vgl. Schedler, 2019). Ein opfer- und betroffenenzentrierter Terrorismus-Begriff, der das erlittene Leid und Trauma infolge rechtsextremer Gewalt als wesentlichen Definitionsansatz berücksichtigt, könnte demnach zu einer stärkeren diskursiven Sichtbarkeit der Opfer und Betroffenen beitragen (vgl. Virchow et al., 2015).
Eine angemessene öffentliche Aushandlung rechtsextremer Gewalttaten ist unmittelbar mit einer nachhaltigen Anerkennung des erlittenen Leids und der vielfältigen Traumata verbunden. Eine verweigerte Anerkennung kann sich unter anderem in einer unangemessenen Politisierung der Tat manifestieren. Die aufgrund der hessischen Landtagswahlen hinausgezögerte Abstimmung zum Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses zum Anschlag in Hanau kann hierbei beispielhaft für die mitunter unzureichende Sensibilisierung der politischen Akteur*innen stehen. Der Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses wurde im Dezember 2023 beschlossen und fasst die Ergebnisse des seit Sommer 2021 eingesetzten Gremiums zusammen. Der Ausschuss sollte die Arbeit der Landesregierung und insbesondere der Sicherheitsbehörden auf mögliche Fehler und Versäumnisse im Kontext des Anschlags untersuchen. Laut Abschlussbericht sei unter anderem ein (struktureller) Rassismus in den Sicherheitsbehörden nicht konsequent bekämpft worden. Außerdem sei es wiederholt zu wesentlichen Fehlern im Umgang mit Angehörigen, Überlebenden und Betroffenen rechtsextremer Gewalt gekommen (vgl. Hessischer Landtag, 2023). Auch nach der Veröffentlichung des Abschlussberichts setzen sich die Angehörigen, Überlebenden und Unterstützer*innen für eine umfassende und konsequente Aufklärung der Tat ein. Dabei zeigen sie sich vor allem mit der politischen Aufarbeitung unzufrieden.
Gedenk-Demonstration zum 4. Jahrestag des Anschlags in Hanau am 17.02.2024
Bild: Viktoria Kamuf
Erinnern, aber wie?
Ein kollektives Gedächtnis (vgl. Assmann, 2021) im Kontext rechtsextremer Gewalt in Deutschland formiert sich unter anderem im Zuge einer teils inkonsequenten Aufarbeitung der Taten, dem wiederkehrenden Postulat einer angemessenen Erinnerungskultur sowie einer notwendigen Selbstorganisation der Opfer und Betroffenen. Seit dem rechtsterroristischen Anschlag in Hanau bemüht sich insbesondere die Initiative 19. Februar Hanau, eine umfassende Aufarbeitung voranzutreiben und eine opferzentrierte Erinnerungskultur gesamtgesellschaftlich zu etablieren. Die Opfer- und Betroffenenperspektiven sollen hierbei in den einschlägigen Diskursen vorrangig gestärkt werden. Ferner soll laut Initiative vor allem einer sicherheitsbehördlichen und/oder politischen Diskurs- bzw. Deutungshoheit nachhaltig entgegengewirkt werden (vgl. Duman & Arslan, 2021).
Die öffentlichen Aushandlungsprozesse hinsichtlich rechtsextremer Gewalttaten führen oftmals lediglich initial zu einer intensiven Problematisierung des Rechtsterrorismus in Deutschland. So postulierte beispielsweise der hessische CDU-Landtagsabgeordnete Heiko Kasseckert bereits im Juli 2020 eine Rückkehr zur »Normalität« in Hanau. Im Einzelnen forderte er, die öffentlichen Informationen und Gedenktafeln zum rechtsterroristischen Anschlag zu entfernen und an weniger prominente Orte in Hanau zu verlegen, wie zum Beispiel den städtischen Zentralfriedhof. Einer randständigen Verortung der Opfer im Hanauer Stadtbild und dem politisch angestoßenen Übergang zu einem unscheinbaren Erinnern stellten sich insbesondere die Opferfamilien explizit entgegen. In der Folge konnten sie gemeinsam mit weiteren zivilgesellschaftlichen Akteur*innen eine sichtbare Erinnerung an die Gewaltopfer sichern, die das öffentliche Stadtbild in Hanau nachhaltig prägt – beispielsweise mithilfe diverser Wandbilder (De Gregorio, 2020). Die skizzierten Aushandlungen in Hanau zeigen, dass eine präsente und opferzentrierte Erinnerungskultur im Kontext rechtsterroristischer Gewalt in Deutschland nicht selbstverständlich ist. Vielmehr sind das Erinnern und das Vergessen als konstitutive Merkmale eines kollektiven Gedächtnisses ein Gegenstand stetiger diskursiver Aushandlungsprozesse.
Im öffentlichen Diskurs zum rechtsterroristischen Anschlag in Hanau konnte eine opfer- und betroffenenzentrierte Artikulation mithilfe der Kampagne #SayTheirNames[2] gestärkt und nachhaltig etabliert werden. So beginnen die öffentlichen Beiträge zur Tat in Hanau vielfach mit den Namen der getöteten Menschen und einem damit verbundenen Appell, das Geschehene nicht zu vergessen. Die Kampagne wirkt über den Anschlag in Hanau hinaus als verbindendes Element, das eine historische Kontinuität rechter Gewalt in Deutschland entlang der Opfernamen wirkmächtig verbreitet – beispielsweise über soziale Netzwerke. Insbesondere im Zuge der 1990er-Jahre, die mitunter als Baseballschlägerjahre verhandelt werden, konnten sich die Opfer rechtsextremer Gewalt in der Öffentlichkeit lediglich bedingt selbstständig und nachhaltig artikulieren bzw. organisieren. Hiernach waren auch ihre Einflüsse auf die offiziellen Erinnerungsprozesse und die einschlägigen Debatten bzw. Narrative begrenzt. Exemplarisch kann an dieser Stelle auf den rechtsterroristischen Brandanschlag in Mölln verwiesen werden. Bahide Arslan und zwei ihrer Enkelinnen, die 14-jährige Ayşe Yilmaz und die 10-jährige Yeliz Arslan, wurden in der Nacht auf den 23. November 1992 in ihrem Haus getötet. Bereits wenige Tage nach den rassistischen Morden ließ der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl mitteilen, dass er aus terminlichen Gründen nicht zu den Trauerfeierlichkeiten nach Mölln reisen könne. Der damalige Sprecher der Bundesregierung, Dieter Vogel, erklärte weiterhin, dass die Bundesregierung nicht »in einen Beileidstourismus ausfallen« wolle (Deutscher Bundestag, 1992). Faruk Arslan (2023), der durch den rassistischen Brandanschlag seine Mutter Bahide, seine Tochter Yeliz und seine Nichte Ayşe gewaltsam verlor, betont rückblickend einen (re-)traumatisierenden Umgang mit seiner Familie sowie eine unangemessene Instrumentalisierung der Tat durch politische und mediale Akteur*innen. Dabei kritisiert er vor allem die anfangs unzureichenden Selbst- und Mitbestimmungsmöglichkeiten der Familie – beispielsweise im Hinblick auf die offiziellen Gedenkveranstaltungen der Stadt Mölln. Faruk Arslan problematisiert weiterhin eine fortwährende Marginalisierung der Opfer- und Betroffenenperspektiven im öffentlichen Diskurs. Heute setzt sich insbesondere sein Sohn, İbrahim Arslan, der zum Zeitpunkt des rassistischen Brandanschlags sieben Jahre alt war, für eine opfer- und betroffenenzentrierte Erinnerung an den Rechtsterrorismus in Mölln bzw. Deutschland ein. Den Angehörigen und Überlebenden des rechtsterroristischen Anschlags in Hanau sowie ihren Unterstützer*innen ist es bereits unmittelbar nach der Tat gelungen, mithilfe einer umfassenden Selbstorganisation und Vernetzung die einschlägigen Diskurse und eine öffentliche Erinnerungspraxis nachhaltig mitzugestalten. Hierzu wendeten sie sich mit ihren Forderungen frühzeitig an die Öffentlichkeit und an die politischen Entscheidungsträger*innen.
Insgesamt können im Hinblick auf eine öffentliche Artikulation, Aushandlung und Anerkennung des rechtsextremen Terrors in Hanau historische Kontinuitäten und spezifische Brüche markiert werden, die einen diskursiven Umgang mit rechtsextremen Gewalttaten in Deutschland sowie den tatbezogenen Traumata exemplarisch beschreiben. Aus einer opfer- und betroffenenzentrierten Perspektive könnte eine konsequente diskursive Einordnung rechtsextremer Gewalt als terroristisch zu einer adäquaten gesamtgesellschaftlichen Problematisierung der einschlägigen (historischen) Taten und der mit ihnen verbundenen Traumata beitragen. Die bislang unzureichende Historisierung der rechtsextremen Gewalt in Deutschland begünstigt Betrachtungen, die rechtsterroristische Anschläge, wie zum Beispiel am 19. Februar 2020 in Hanau, in der Gegenwartsgesellschaft ausschließlich als isolierte Einzelfälle behandeln. Eine umfangreiche zeithistorische Aufarbeitung des Rechtsterrorismus steht bislang insbesondere im Kontext einer dezidierten Berücksichtigung der Opfer- und Betroffenenperspektiven noch aus. Dabei muss eine opfer- und betroffenenzentrierte Historisierung des Rechtsterrorismus den gewaltsamen und traumatisierenden Bruch in den individuellen Lebensentwürfen der betroffenen Menschen explizit adressieren – beispielsweise im Rahmen einer Oral History-Studie (zur Methodik weiterführend u.a. Lynn, 2016; Welzer, 2000). Darüber hinaus kann vor allem eine umfassende Analyse der öffentlichen Artikulations- und Aushandlungsprozesse infolge rechtsextremer Gewalttaten einschlägige Forschungsperspektiven fördern. Die historische Diskursanalyse (vgl. Landwehr, 2008) bietet sich hierbei als einträglicher Forschungsansatz an. Hiernach stellt sich unter anderem die Frage, inwiefern die Opfer bzw. Betroffenen in den einschlägigen (historischen) Diskursen berücksichtigt werden. Können in den (historischen) Diskursen Aspekte einer verweigerten Trauerarbeit identifiziert werden? Welche Ausschlüsse bzw. Grenzen manifestieren sich für die Opfer und Betroffenen (nach wie vor) in den relevanten Diskursen? Im März 2022 verkündete Nancy Faeser einen zehn Punkte umfassenden Aktionsplan gegen Rechtsextremismus, der zum nachhaltigen Abbau des rechtsextremen Gefährdungspotenzials in Deutschland beitragen soll. Der letzte Programmpunkt, »die Opfer von Rechtsextremismus nicht allein zu lassen«, konnte laut einschlägiger Einlassungen bislang nur unzureichend umgesetzt werden (vgl. u.a. Stukenberg, 2023). Schließlich bleibt auch abzuwarten, inwiefern das von der derzeitigen Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag anvisierte »Archiv zum Rechtsterrorismus« in Deutschland eine Rechtsextremismusforschung aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive vorantreiben kann.
Literatur
Amadeu Antonio Stiftung. (2023). Todesopfer rechter Gewalt. https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/todesopfer-rechter-gewalt/
Arslan, F., Arslan, İ. & Demirtaş, B. (2023). »Was der Möllner Anschlag mit uns machte«. Auswirkungen und Folgen des Brandanschlags auf die Familie Arslan und die Bedeutung der Solidarität von Betroffenen. Faruk Arslan und İbrahim Arslan im Gespräch mit B. Demirtaş. In Demirtaş, B., Schmitz, A., Gür-Şeker, D. & Kahveci, Ç. (Hrsg.), Solingen, 30 Jahre nach dem Brandanschlag. Rassismus, extrem rechte Gewalt und die Narben einer vernachlässigten Aufarbeitung, (S. 107–117). transcript Verlag.
Assmann, A. (2021). Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik (4. Auflage). C. H. Beck.
Bundesministerium des Innern und für Heimat. (2022). Aktionsplan gegen Rechtsextremismus. https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/2022/aktionsplan-rechtsextremismus.pdf?__blob=publicationFile&v=3
Deutscher Bundestag. (1992). Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS/Linke Liste. Der Sprecher der Bundesregierung und der „Beileidstourismus“. Drucksache 12/3926. https://dserver.bundestag.de/btd/12/040/1204045.pdf
De Gregorio, L. (2020). Niemals müde in Hanau. https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-journal/deutschland-niemals-muede-hanau
Duman, N. & Arslan İ. (2021). Von Mölln bis nach Hanau. Erinnern heißt verändern. https://heimatkunde.boell.de/de/2021/02/19/von-moelln-bis-nach-hanau-erinnern-heisst-veraendern
Faeser, N. (2022). Bulletin der Bundesregierung Nr. 03-2. Rede der Bundesministerin des Innern und für Heimat, Nancy Faeser. https://www.bundesregierung.de/re- source/blob/975954/1996312/159bfaf9b45a4a191ccbfab9814562f6/03-2-bmi-debatte-bt- data.pdf?download=1
Franck, G. (1998). Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. Hanser.
Hessischer Landtag. (2023). Abschlussbericht. Untersuchungsausschuss 20/2. Drucksache 20/6079. https://starweb.hessen.de/cache/DRS/20/4/11754.pdf
Landwehr, A. (2018). Historische Diskursanalyse (2. Auflage). Campus Verlag.
Lynn, A. (2016). Oral History Theory (2. Auflage). Routledge.
Manthe, B. (2023). Rechtsterrorismus, rechtsradikale Gewalt und die historischen Erzählungen über die Bundesrepublik. In Puls, H. & Virchow, F. (Hrsg.), Rechtsterrorismus in der alten Bundesrepublik. Historische und sozialwissenschaftliche Perspektiven (S. 233–243). Springer VS.
Potthoff, M. (2012). Medien-Frames und ihre Entstehung. Springer VS.
Quent, M. (2022). Rassismus, Radikalisierung, Rechtsterrorismus. Wie der NSU entstand und was er über die Gesellschaft verrät (3. Auflage). Beltz Juventa.
Schedler, J. (2019). Rechte Gewalt und Rechtsterrorismus. Versuch einer Abgrenzung. In Quent, M. & Salzborn, S. (Hrsg.), Rechtsterrorismus (S. 104–117). Schriftenreihe des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft. https://www.idz-jena.de/fileadmin/user_upload/PDFS_WsD6/WEB_Idz_WsD_06.pdf
Stukenberg, T. (2023). Punktabzug beim Opferschutz. https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2023-11/nancy-faeser-opferschutz-rechtsextremismus-aktionsplan
The African American Policy Forum (2023). About #SayHerName. https://www.aapf.org/sayhername
Virchow, F., Thomas, T. & Grittmann, E. (2015). „Das Unwort erklärt die Untat“. Die Berichterstattung über die NSU-Morde – eine Medienkritik. Otto Brenner Stiftung.
Welzer, H. (2000). Das Interview als Artefakt. Zur Kritik der Zeitzeugenforschung. BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen, 13 (1), S. 284–296. https://doi.org/10.3224/bios.v32i1-2.20
Fußnoten
[1] Der Attentäter erschoss im Anschluss an die rechtsterroristische Tat seine Mutter und sich selbst.
[2] Die Kampagne entwickelte sich ursprünglich als Reaktion auf rassistische Gewalt und Polizeibrutalität in den USA. Sie ist eine Erweiterung der #SayHerName-Kampagne, die im Rahmen eines intersektionalen Feminismus eine öffentliche Erinnerung an Women of Color, die Opfer rassistischer (Polizei-)Gewalt wurden, fördern soll. Beide Kampagnen sind integraler Bestandteil eines umfassenderen Engagements für Gerechtigkeit und Gleichberechtigung (in den USA) und fungieren als bedeutende Impulse zur Sensibilisierung für die Auswirkungen von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in der Gesellschaft (hierzu weiterführend u.a. The African American Policy Forum, 2023).
Schlagwörter
- Research approaches & methods, Rassismus, Rechtsterrorismus/Rechte Gewalt
Veröffentlichunsdatum
Yassir Jakani
Yassir Jakani studierte Geschichtswissenschaft, Germanistik und Bildungswissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum. In seiner Bachelorarbeit erforschte er die strukturelle und ideologische Genese der islamistischen Muslimbruderschaft. In seiner Masterarbeit untersuchte er die historischen Perspektiven eines transnationalen Extremismus in Deutschland am Beispiel der extremistischen Ülkücü-Bewegung („Graue Wölfe“). Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sozialtheorie und Sozialpsychologie sowie am Lehrstuhl für Gender Studies der Ruhr-Universität Bochum. Als Doktorand im IPU-KKC-Graduiertenkolleg „Traumata und kollektive Gewalt“ beschäftigt er sich mit der öffentlichen Artikulation, Aushandlung und Anerkennung des rechtsextremen Terrors in Deutschland. Sein Promotionsprojekt fokussiert dabei insbesondere die (historische) Präsenz der Opfer rechtsterroristischer Gewalt in der Öffentlichkeit – ebenso wie das Fehlen von Aufmerksamkeit und die (Weiter-)Entwicklung entsprechender Perspektiven. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen (historische) Extremismus-, Rassismus- und Gewaltforschung sowie (historisch-)politische Bildung in der Migrationsgesellschaft.
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