Rechtsextremismus ist eine gesellschaftliche Herausforderung
von Andreas Zick
Nach Ergebnissen der Mitte-Studie aus dem Jahr 2021 stellt der Rechtsextremismus neben dem Klimawandel für viele Menschen in Deutschland die größte Bedrohung dar. Der aktuelle Rechtsextremismus in Deutschland ist tief in der Geschichte des Nationalsozialismus verwurzelt und wird über einen autoritären Nationalismus tradiert.
Heute wie früher zeigt er sich in vielen Facetten: in Mentalitäten, Taten und Handlungsweisen, die von rechtsextremen Hassreden bis hin zu Terrorakten reichen, in Diskursen und Mediatisierung sowie in Organisationsformen wie Gruppierungen, Netzwerken und Parteien. Er zeigt sich offen und versteckt. Er bildet Kontinuitäten aus und zugleich wandelt er sich und passt sich dem Zeitgeist an. Er ist globaler, moderner und transnationaler geworden, heterogen in seinen Organisations- und Bewegungsstrukturen, Kampagnen und anderen politischen Aktivitäten. Extrem rechte Einstellungen und Orientierungen reichen weit in die Mitte der Gesellschaft hinein. Dabei existieren fließende Übergänge zu verwandten Phänomenen, insbesondere dem Rechtspopulismus. Der Rechtsextremismus steht in Wechselwirkung mit anderen ideologischen Strömungen und knüpft beispielsweise an rassistische Bewegungen an.
Rechtsextremismusforschung kann zum Verständnis viel beitragen
Trotz der ständigen Veränderungen wissen Forschende — gemessen an den vorliegenden Publikationen, Fachveranstaltungen und Analysen — verhältnismäßig viel über den Rechtsextremismus. Die Rechtsextremismusforschung analysiert vielfältige Phänomene vom Rechtsterrorismus bis zu der „Neuen Rechten“, dem Rechtspopulismus und Verbindungen in kriminelle Milieus, Wechselwirkungen mit anderen extremistischen Erscheinungsformen oder die Akzeptanz rechtsextremer Haltungen in der sogenannten Mitte der Gesellschaft. Sie widmet sich diesen Phänomenen aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven und oft an der Schnittstelle bzw. in enger Verbindung zwischen akademischer Wissenschaft und der Praxis.
Die Rechtsextremismusforschung ist sehr vielfältig und daher nicht einfach zu vermessen. Den Kern der Forschung bilden zum einen abgeschlossene und laufende Forschungsprojekte der grundlagenorientierten Wissenschaftsförderung (DFG, BMBF, ESF, Horizon Europe etc.) und der anwendungsorientierten und von Stiftungen geförderten Forschung. Zum anderen charakterisieren Publikationen die Identität der Forschung. Sichtbar sind sie zum Beispiel in traditionellen Wissensprodukten wie einschlägigen Fachpublikationen und Handbüchern.Hinzu kommen zahlreiche, bislang nicht systematisch dokumentierte Qualifikationsarbeiten und sogenannte graue Literatur, die Wissen einbringen. Systematische Projektübersichten und eine anschauliche Übersicht über existierende Publikationen sind bisher unvollständig und nur begrenzt zugänglich. Zur Rechtsextremismusforschung gehört darüber hinaus noch vieles mehr: Dazu gehören Institute mit einem Schwerpunkt auf Rechtsextremismusforschung sowie Forschungszentren und einige (wenn auch bislang wenige) Professuren, die explizit mit einer entsprechenden Denomination versehen sind. Außerdem gehören dazu Wissens- und Austauschnetzwerke. Sicherlich gibt es darüber hinaus noch viele weitere Netzwerke und Personen, die der Rechtsextremismusforschung zugeordnet werden können.
Wissen erkunden, tauschen und vernetzen
Alle diese Akteur*innen haben Wissen und die Vermutung liegt nahe, dass es zudem noch mehr Expertise und Wissen gibt, das nur in Teilen geschöpft und geteilt wird. Was ist die Rechtsextremismusforschung? Wer weiß (et)was? Wer hat eine Frage für die Forschung, die andere beantworten können oder die gemeinsam erkundet werden kann? Eine inklusivere wie umfassendere und schnellere kommunikative Form des Wissensaustausches sowie eine vernetzte Verbundforschung können sinnvoll für das Verständnis des Rechtsextremismus sein. Eine Vernetzung der Landschaft der Rechtsextremismusforschung ist unseres Erachtens aus mehreren Gründen erstrebenswert:
- Erstens wird die Rechtsextremismusforschung aus unterschiedlichen Disziplinen beforscht; etablierte fachdisziplinäre Vernetzungsstrukturen allein bilden also nicht das gesamte Feld ab. Es könnte Sinn machen, eine eigenständige Forschungsinfrastruktur zu entwickeln, um der Multi- und Interdisziplinarität des Forschungsfelds gerecht zu werden.
- Zweitens ist das Feld an der Schnittstelle von Grundlagen- und anwendungsorientierter Wissenschaft und Praxis angesiedelt. Für den gegenseitigen Austausch von Beobachtungen, Erkenntnissen und Zugängen zum Thema braucht es eine eigenständige Vernetzungsstruktur. Bislang geschieht dies eher punktuell bzw. über vereinzelte Einladung an Wissenschaft oder Praxis.
- Drittens ist die Praxis selbst heterogen. Etablierte und hoch professionalisierte Akteur*innen der Demokratiearbeit gehören dazu, ebenso mittlere und kleinere Träger, die über Kommunen, Länder und den Bund sowie zivilgesellschaftliche Organisationen finanziert werden. Hinzu kommen etablierte Strukturen der politischen Bildung, die ebenfalls in dem Feld arbeiten. Hier braucht es auch eine stärkere Vernetzung der Praxis über diese unterschiedlichen Anbindungen hinweg.
- Viertens steuern viele junge, engagierte Wissenschaftler*innen wichtiges Wissen bei, aber auch und gerade sie könnten gezielter verbunden und gefördert werden. Zugleich liegt im Praxisbereich zu aktuellen Phänomenen viel Wissen vor, welches nur unzureichend mit der Grundlagenwissenschaft verknüpft ist. Auch die Entwicklung verwandter Forschungsfelder (u.a. der Rassismus- und Radikalisierungsforschung) vollzieht sich weitgehend nebeneinander. Dies alles steht im Widerspruch zu der hohen Aufmerksamkeit und Nachfrage aus Politik, Gesellschaft, Öffentlichkeit und der politischen Bildung.
- Fünftens ist es für die Förderung der Forschung hilfreich, das Feld zu kennen und gemeinsam Forschungslücken und -bedarfe ausfindig zu machen. Die Forschungsförderung sowie jene Institutionen, die die Forschung beherbergen, fragen, wie belastbar Forschungsfelder sind, ob und wie Ausbildung und Forschung institutionalisiert werden können. Ferner fragen sie, wie stark die Gemeinschaft der Forschenden ist und ob die Forschung (international? Interdisziplinär?) anschlussfähig ist.
Angebot und Herausforderung eines Wissensnetzwerks Rechtsextremismusforschung
Es macht Sinn, sich besser zu vernetzen im Sinne eines Wissensaustausches, -speichers und -netzwerkes an Beobachtenden wie Fragenden. Das zu versuchen, ist Grundidee des Wissensnetzwerkes. Es geht nicht um eine Vernetzung um jeden Preis, sondern um eine bessere Schöpfung von Wissen und die Herstellung von Brücken und Bindungen – also einer Gemeinschaft der Forschenden, für jene, die es möchten. Dabei liegt naturgemäß die besondere Herausforderung in der genauen Erkundung dieses Wissens und in dem Commitment der zu Vernetzenden. Zudem ist mit Blick auf den Gegenstand des Wissensnetzwerkes – den Rechtsextremismus – zu fragen, wie die Grenzen und Wissensbrücken zu nahen Forschungs- und Transferfeldern, wie etwa der Populismus- und Extremismusforschung, der Präventions- und Interventionsforschung beschaffen sind. Die Zusammenhänge zu anderen Formen der Radikalisierung wie auch zu den Phänomenen des Rassismus, des Antisemitismus und vieler anderer Ausdrucksformen und Ideologien gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit wie auch von Verschwörungserzählungen ist zu erkunden und zu diskutieren. Das muss und kann nicht ohne Konflikte um angemessene Phänomenbeschreibungen wie -definitionen oder ohne Theorie- und Methodendebatten gehen. Hierfür braucht es Vertrauen und Konsens, dass bei allen nötigen Wettbewerben um Ressourcen die Forschung im Wesentlichen ein Feld der Suche nach Wissen ist. Umso mehr besteht die Chance eines Netzwerkes – bei allen Differenzen – darin, die Defizite und Desiderate der bisherigen Rechtsextremismusforschung systematisch zu ermitteln und zu bearbeiten und dort, wo es fehlt, die nötigen Mittel dafür einzufordern.
Einige (Forschungs-)Lücken und die damit einhergehenden Herausforderungen für die Etablierung und Stabilisierung der Rechtsextremismusforschung sind bekannt. Es fehlt u.a. an Panel- und Langzeitstudien zu rechtsextremer Radikalisierung und radikalisierten Biografien. Unklar ist auch, in welchem Spannungsverhältnis die Rechtsextremismusforschung zu weiteren Disziplinen steht, in denen Rechtsextremismus eine Rolle spielt, aber nicht primär im Zentrum steht, wie bei der Friedens- und Konflikt- sowie der Jugend- und Geschlechterforschung. Es fehlt bislang außerdem ein systematischer Austausch mit Fachgesellschaften (Soziologie, Psychologie, Politikwissenschaft etc.) zu Grundfragen der Forschung und Förderung. Es gibt Nachwuchsgruppen, Graduiertenkollegs etc., doch ist die junge Rechtsextremismusforschung bislang nicht systematisch vernetzt. Unklar ist, wie die Beziehungen zwischen Grundlagenforschung und behördlicher Forschung bzw. Sicherheitsforschung gestaltet werden können. Ebenso gibt es kaum Orte, an denen Wissen über Ausprägungen des Rechtsextremismus in Deutschland systematisch mit der internationalen Forschung verbunden werden kann. Es fehlt zudem an forschungsbasierten Foren, in denen neue Erscheinungsformen des Rechtsextremismus zeitnah und standortübergreifend analysiert werden können.
Ein Wissensnetzwerk kann diesen Herausforderungen begegnen und gemeinsam aktiv werden, um bestehende Lücken zu füllen. Aber ein zu starker Fokus auf dem Mangel und Desideraten ist vermutlich weniger netzwerkbildend und attraktiv als die Motivation, gemeinsam ein wissendes Netzwerk zu einer der größten Herausforderungen und Bedrohungen für die Demokratie — inklusive ihrer Forschungs- und Meinungsfreiheit — zu schaffen. Dort wollen wir ansetzen und möglichst viele Forschende ermuntern, Teil des Netzwerks zu werden, damit sichtbarer wird, wie stark die Forschung bereits ist. Wi-REX möchte dies schaffen, indem verstreutes Wissen in Beziehung gebracht wird und der Transfer zwischen Wissenschaft und Praxis systematisch hergestellt wird. Dabei sollen junge Wissenschaftler*innen besonders gefördert werden und eigene Vernetzungsmöglichkeiten erhalten. Wi-REX möchte zudem auch eine Orientierung für gesellschaftliche Akteur*innen und Öffentlichkeiten bieten. Wissensnetzwerke haben die Chance, sich als konsolidierende lernende Systeme zu bilden. Dazu braucht es Forschende, die voneinander lernen möchten.
Schlagwörter
- Forschungsansätze & Methoden, Wissenschaft-Praxis-Transfer
Veröffentlichunsdatum
Andreas Zick
Andreas Zick ist wissenschaftlicher Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) und der Konfliktakademie, sowie Professor für Sozialisation und Konfliktforschung an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld. Er forscht vor allem zu den Bereichen Radikalisierung und Gewalt, Vorurteile und Rassismus, Akkulturationsprozesse und Diskriminierung.
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